Zum Gültigkeitsbereich der Naturgesetze.

Rede zum Antritt des Rektorates der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin

gehalten in der Aula

am 15. Oktober 1921

von

Walther Nernst


Berlin 1921

Druck der Norddeutschen Buchdruckerei und Verlagsanstalt


Hochansehnliche Versammlung!
Verehrte Kollegen!
Liebe Kommilitonen!

Wenn ich, wie häufig bei dieser feierlichen Gelegenheit geschehen, versuchen wollte, Ihnen einen Überblick über die neuere Entwicklung der mir am nächsten stehenden Fächer zu geben, so würde es auf dem Gebiete von Physik und Chemie an Gegenständen allgemeinen Interesses gewiß nicht fehlen; haben doch u. a. die neueren Errungenschaften uns so manchen Einblick in das Verhältnis von Kraft und Stoff, diesem Lieblingsgegenstande von Physikern und Nichtphysikern, gebracht.

Zunächst stehen wir der Materie ganz anders gegenüber als vor etwa einem Jahrzehnt. Mit großem Erfolge wird die Auffassung vertreten, daß alle chemischen Atome aus einem positiv geladenen Kerne bestehen, der von der entsprechenden Zahl negativer Elektronen umkreist wird; was man früher als das Volumen eines Atoms bezeichnete, erweist sich jetzt als fast vollkommen leer, weil Kern und Elektronen nur einen winzigen Bruchteil des Atomvolumens erfüllen. Die Zahl der verschiedenen möglichen chemischen Elemente erscheint nun nicht mehr beliebig groß, sondern ist bedingt durch die Zahl der negativen Elektronen, die den Kern umkreisen können.

Noch wichtiger ist erkenntnistheoretisch der Umstand, daß gegenwärtig der Gegensatz zwischen Kraft und Stoff oder, wie wir uns klarer ausdrücken, zwischen Energie und Materie überhaupt verschwunden ist. Energie und Materie betrachten wir jetzt als ineinander überführbar; zwischen der durch das Quadrat der Lichtgeschwindigkeit dividierten Energie und einer ihr numerisch gleichen Masse kann Identität herrschen.

Mit Recht werden Sie nun aber von mir verlangen, daß ich auseinandersetze, was ist Atomkern, was ist Elektron, wie kommt man dazu, die Energie durch das Quadrat der Lichtgeschwindigkeit zu dividieren? Und schon muß ich haltmachen; denn hierzu bedürfte es einer eigenen Semestervorlesung, in einem Festvortrage ist da wenig auszurichten. je tiefer eben Physik und Chemie schürfen, um so mehr entzieht sich ihre Arbeitsweise dem Blicke des Nichtphysikers und des Nichtchemikers. Wir wollen daher heute versuchen, uns einer allgemeineren Frage zuzuwenden, vielleicht der allgemeinsten auf dem Gebiete der exakten Naturwissenschaften, nämlich derjenigen nach der Bedeutung und dem Gültigkeitsbereich unserer Naturgesetze.

Daß diese sämtlich rein erfahrungsmäßig sind und daher aprioristisch nicht erschlossen werden können, wird jetzt wohl nirgends mehr bestritten. Noch Schopenhauer z. B. dachte anders darüber, indem er behauptete, das Gesetz der Erhaltung der Materie sei a priori klar. Heute halten wir dies Gesetz in der Form, wie es Lavoisier begründete und wie es auch noch Schopenhauer als selbstverständlich ansah, überhaupt gar nicht mehr für richtig, wie bereits in meinen einleitenden Worten kurz angedeutet wurde. Wir halten also daran fest, ein Naturgesetz ist nichts anderes als idealisierte Erfahrung, eine glückliche Zusammenfassung einer mehr oder weniger großen Zahl von Beobachtungstatsachen.

Damit ist aber keineswegs gesagt, daß der Weg zur Entdeckung eines Naturgesetzes notwendig über die Betrachtung des Tatsachenmaterials führen muß, das es beherrschen soll. Besonders häufig wird durch Analogieschlüsse die Gültigkeit von Gesetzen vermutet, die dann erst nachträglich durch besondere Beobachtungen geprüft werden müssen. Oft ist eine Vorstellungsweise, die in einzelnen Fällen sich bereits bewährt hat, außerordentlich fruchtbar auch für die Behandlung scheinbar ganz andersartiger Phänomene. Da kommt es nun vor, daß eine Vorstellungsweise trotz vieler erfolge aufgegeben werden muß, weil sie irgendwo versagt und daher durch eine andere zu ersetzen ist. In solchen Fällen sagte man früher, die ältere Vorstellungsweise sei falsch gewesen, worin natürlich liegt, daß man die neue für richtig hält. Gegenwärtig ist man bescheidener geworden. Wie Boltzmann [1] gelegentlich ausführt, sagt man besser, die neue Vorstellungsweise sei ein zweckmäßigeres Abbild der Tatsachen als die ältere. Damit ist klar ausgedrückt, daß auch die alte Theorie von Nutzen war, indem sie zu brauchbaren Gesetzen führte, sowie auch, daß die Möglichkeit vorliegt, daß die neue Theorie durch eine noch zweckmäßigere verdrängt werden kann.

Ein berühmtes Beispiel hierfür bildet eine Theorie von Fourier. Von der Annahme ausgehend, daß die Wärme wie eine Flüssigkeit strömt, entwickelte er gerade vor 100 Jahren eine mathematisch-physikalische Theorie der Wärmeleitung, die im wesentlichen auch heute noch als vollendet gelten kann. Gegenwärtig betrachtet man die Wärme als einen Bewegungszustand. In den meisten Fällen führt die neue Auffassung zur Grundgleichung von Fourier, nur bei äußerst verdünnten Gasen liefert sie, in Übereinstimmung mit der Erfahrung, gänzlich abweichende Ergebnisse.

Dies einfache Beispiel ist durchaus typisch; von einer Vorstellung ausgehend, die später durch eine zweckmäßigere ersetzt wurde, fand Fourier ein Gesetz, das zwar nicht überall zutrifft, aber doch für sehr viele Fälle hinreichend genau ist und daher in diesen Fällen stets benutzt werden wird. In den Fourierschen Formeln der Wärmeleitung sind also, wie wir wohl sagen können, Ewigkeitswerte enthalten, trotzdem einerseits die Vorstellung, von der er ausging, völlig sich wandelte, und trotzdem andererseits seine Formeln in einzelnen extremen Fällen ungenau werden oder ganz versagen.

Von den Vorstellungen, die zur Ableitung von Naturgesetzen führten, wollen wir im folgenden meistens absehen und nur festhalten, daß dem Wechsel solcher Auffassungen immer auch notwendig eine Umgestaltung von Naturgesetzen entspricht, die allerdings keineswegs die alten Gesetze völlig umwirft, sondern sie immer nur für gewisse mehr oder weniger extreme Fälle verändert. Und ferner lehrte uns bereits obiges Beispiel, daß ein Naturgesetz notwendig eine ganz präzise Fassung erhalten, d. h. in eine mathematische Formel gekleidet sein muß. Nur der streng quantitative Charakter eines Naturgesetzes ermöglicht die Prüfung, bis zu welchem Grade von Genauigkeit es als zutreffend gelten kann. Die biologischen Gesetze, wie etwa diejenigen der Entwicklungslehre oder der Vererbungslehre, sind qualitativen Charakters oder doch nur bedingt einer quantitativen Behandlung fähig. Trotz ihrer großen Bedeutung können wir sie kaum als Naturgesetze bezeichnen, sondern eher als Regeln, bei denen man auch angesichts von Ausnahmen ein Auge zudrückt.

Wie nun aber mit dem Wandel der Theorie die Form der Gesetze sich ändert, so muß auch selbstverständlich, wenn erfahrungsgemäß ein Versagen oder auch nur eine Ungenauigkeit eines Naturgesetzes in mehr oder weniger extremen Fällen durch Messungen festgestellt wird, die Theorie verändert werden, die zu jenem Gesetze führte. So hat denn in der Tat die genaue Prüfung von Naturgesetzen sehr häufig bedeutsame Wandlungen der Theorie zur Folge gehabt.

Diese Aufgabe fällt natürlich in erster Linie den physikalischen und chemischen Instituten zu; eine wichtige Ergänzung finden letztere in der physikalischen und chemischen Technik, weil hier die Naturgesetze, soweit sie bei den technischen Prozessen mitspielen, nicht nur in ganz anderen Dimensionen, sondern auch außerordentlich viel häufiger und vielseitiger angewandt werden, als es im Laboratorium möglich ist. Die Elektrotechnik braucht z. B. das Ohmsche Gesetz für Gleichstrom und Wechselstrom in ganz anderem Maße, als es die wissenschaftliche Forschung vermag, selbst kleine Abweichungen würden sich in der Bilanz der großen Elektrizitätswerke unmittelbar fühlbar machen. Die Festigkeitslehre, die den Bauten aller Art die wissenschaftliche Unterlage liefert, ist überhaupt erst in der Praxis zu einer eingehenden Theorie ausgebaut worden; wiederholt lehrte der Einsturz einer großen Halle oder einer neuartigen Brückenkonstruktion, daß hier entweder die Forderungen der exakten Theorie nicht genügend berücksichtigt waren oder daß an letzterer noch eine weitere Verfeinerung angebracht werden mußte.

Wiederum in ganz anderen Dimensionen können einzelne Naturgesetze geprüft werden, indem man sie auf kosmische Phänomene anwendet; daß an verhältnismäßig winzigen Apparaten ursprünglich geprüfte Formeln mit größter Genauigkeit auch fast unfaßbar große Gebilde beherrschen, rückt die gewaltige logische Kraft eines brauchbaren Naturgesetzes in ein besonders helles Licht. So bewährten sich in der Astronomie die Lehrsätze der Mechanik von Galiläi und Newton und das Attraktionsgesetz des letzteren Forschers mit größter Genauigkeit; die Größe der Lichtgeschwindigkeit ließ sich durch astronomische Messungen scharf ermitteln, wie auch ihre Unabhängigkeit von der Wellenlänge der betreffenden Lichtart.

Die Sicherheit und der ungeheuer große Gültigkeitsbereich vieler Naturgesetze hat selbst außerhalb der exakten Naturwissenschaften stets lebhafte Bewunderung erregt und neben ihren technischen Erfolgen wohl in erster Linie ihren großen Einfluß, z. B. auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht, begründet. Als Beispiel der in der Tat kaum zu überschätzenden Bedeutung der Naturgesetze möchte ich einige Aussprüche zitieren:

So sagt Helmholtz [2]: "Wer das Gesetz der Phänomene kennt, gewinnt dadurch nicht nur Kenntnis, er gewinnt auch die Macht, bei geeigneter Gelegenheit in den Lauf der Natur einzugreifen und sie nach seinem Willen und zu seinem Nutzen weiter arbeiten zu lassen. Er gewinnt die Einsicht in den zukünftigen Verlauf dieser selben Phänomene. Er gewinnt in Wahrheit Fähigkeiten, wie sie abergläubische Zeiten einst bei Propheten und Magiern suchten."

Es sei ferner an die bekannten Worte von Heinrich Hertz [3] erinnert: "Man kann Maxwells wunderbare elektromagnetische Lichttheorie nicht studieren, ohne bisweilen die Empfindung zu haben, als wohne den mathematischen Formeln selbständiges Leben und eigener Verstand inne, als seien dieselben klüger als wir, klüger sogar als ihr Erfinder, als gäben sie uns mehr heraus, als seinerzeit in sie hineingelegt wurde." Diese Worte von Hertz lassen sich unverändert auf zahlreiche andere, wohl durchgearbeitete Theorien übertragen, wie ja auch manche Sätze der Geometrie, die, weil ebenfalls auf Erfahrungstatsachen begründet, sozusagen als die Vorboten der Naturgesetze in der Kulturentwicklung gelten können, vielfach ein weiteres Anwendungsgebiet besitzen, als aus dem ursprünglichen Beweise hervorging.

Wie schon  wiederholt betont, gibt es kein Naturgesetz, das man lediglich als Resultat eines Denkprozesses bezeichnen dürfte, vielmehr entstand jedes einzelne im letzten Ende aus einer glücklichen Kombination von Erfahrungstatsachen. Bekanntlich stand die sogenannte "Identitätsphilosophie" auf einem anderen Standpunkte; von der Hypothese ausgehend, daß die gesamte Umwelt das Resultat der Denkkraft eines schöpferischen Geistes sei, sollte der menschliche Geist, als ihm gleichartig oder gar als ein Stück von ihm, tatsächlich befähigt sein, das Wesen der Umgebung nachzudenken und aus sich heraus bis zu ihrem tiefsten Verständnis zu gelangen. Die aprioristische Vorhersage von Naturgesetzen erschien hiernach für den menschlichen Geist keine Unmöglichkeit zu sein.

Jene Hypothese, und damit die Identitätsphilosophie überhaupt, gilt heute, nachdem sogar die Lehrsätze der Geometrie ihres aprioristischen Charakters entkleidet worden sind, als ein längst überwundener Standpunkt, zweifellos sehr zum Vorteil einer gedeihlichen Entwicklung der Naturwissenschaft, die besonders in Deutschland unter der Vorherrschaft der Naturphilosophie tatsächlich längere Zeit gelitten hatte; nachdem auch bei uns schon längst die heilsame Rückkehr zu Kant sich vollzogen hat und auch kleine Ansätze zu jener Naturphilosophie, die sich bei Kant vielleicht noch vorfinden, überwunden worden sind, ist es gewiß ganz ungefährlich, der Frage nachzugehen, ob nicht, wie fast stets bei derartigen starken geistigen Strömungen, auch in der Identitätsphilosophie ein gesunder Kern steckt. Und da richtet sich unser Blick auf eine merkwürdige Erscheinung, die wir in der von der strengsten Empirie ausgehenden Naturforschung nirgends verkennen können, daß nämlich die einfachere Anschauung unter verschiedenen Auffassungsmöglichkeiten stets zielbewußt bevorzugt wird; und dies nicht etwa bloß aus Bequemlichkeitsrücksichten, die übrigens angesichts der bisweilen äußerst komplizierten Rechnungen, zu denen die Durchführung einer Hypothese häufig zwingt, nicht ganz nebensächlich sind, sondern in der Überzeugung, daß von vornherein die einfachere Deutung auch mehr innere Wahrscheinlichkeit besitze. Und der Erfolg hat dies in vielen Fällen aufs schlagendste bestätigt. In einer sehr bemerkenswerten Zusammenfassung der Relativitätstheorie stellt W. Wien [4] für die künftige Entwicklung der sogenannten allgemeinen Relativitätstheorie geradezu die Forderung auf, daß die Theorie einfach sein müsse; da die Forderung ihrer Richtigkeit oder, wie wir mit Boltzmann lieber sagen wollen, ihrer Zweckmäßigkeit selbstverständlich immer gilt, so liegt darin implicite die Annahme, daß eine brauchbare, d. h. der Erfahrung sich möglichst gut anschmiegende Theorie auch dem menschlichen Geiste möglichst conform gebaut sei.

Für die Einfachheit wirklich brauchbarer Naturgesetze hat gerade die neueste Entwicklung der Mechanik ein überaus schönes Beispiel gebracht. Schon früh hatte man erkannt, daß es in der Mechanik immer nur auf die relative Bewegung ankommt, und seit Galiläi brachte man dies in der nach ihm benannten "Galiläitransformation" zum Ausdruck. Bei der Anwendung der betreffenden Gleichungen auf elektromagnetische Vorgänge stieß man jedoch auf Schwierigkeiten, und H. A. Lorentz führte daher ein anderes System von Gleichungen ein, die sogenannte "Lorentztransformation", aus der dann Prof. Einstein weitgehende Schlüsse zog, die, wie so häufig, über die ursprüngliche Absicht des Entdeckers jener neuen, fundamentalen Gleichungen noch erheblich hinausgingen. Wer auch nur über ein elementares mathematisches Wissen verfügt, sollte sich den großen Genuß das Studiums der Lorentztransformation nicht versagen; wer zum ersten Male sich in ihre Bedeutung hineingearbeitet hat, dem ist zu Mute, als ob er einen Rebus geraten hätte, dessen Lösung die Gewähr in sich trägt, daß man richtig geraten hat, und diese Empfindung tritt ein, auch ohne daß man die experimentelle Begründung berücksichtigt, die der Lorentztransformation gegenüber der alten Galiläitransformation ein entschiedenes Übergewicht verschafft; so überaus an sich einleuchtend erscheinen die neuen Gleichungen.

Das ist nun gewiß höchst merkwürdig. Natürlich liegt es am nächsten zu sagen, die Forschung habe durch lange Übung den menschlichen Geist bereits durch eine Reihe von Generationen hindurch derart geschult, daß ihm das Richtige zugleich auch das Einfachste zu sein scheint. Wie dem auch sei, es verlohnte sich der Mühe, der Vermutung nachzuspüren, ob wirklich Beziehungen existieren zwischen der Logik des Geschehens einerseits und der Logik des menschlichen Geistes andererseits.

Gehen wir nunmehr zu der Frage über, wie weit die Leistungsfähigkeit unserer Naturgesetze geht. Häufig stellt man sich das Naturgesetz als etwas Starres und Unabänderliches vor; aber diese Vorstellung müssen wir korrigieren, sobald wir in eine gründlichere, historische Betrachtung eintreten. Und dies ist der einzig gangbare Weg; wie jedes einzelne Naturgesetz Resultat der Erfahrung ist, so kann ein allgemeines Urteil darüber natürlich auch nur aus der Erfahrung, in diesem Falle also nur aus einer historischen Betrachtung, geschöpft werden. Das Ergebnis einer solchen haben wir oben schon vorweggenommen, als wir als typisches Beispiel die Theorie der Wärmeleitung betrachteten; Fourier gab längst eine wundervolle Theorie dieses Phänomens, aber eine nicht ganz vollständige. Dasselbe beobachten wir nun überall, so daß sich uns die Überzeugung aufdrängt, wir besitzen überhaupt kein Naturgesetz in endgültiger Fassung.

Als weitere Belege hierfür wollen wir noch zwei der berühmtesten Beispiele kurz streifen. In Gestalt der Galiläi-Newtonschen Mechanik und des Newtonschen Attraktionsgesetzes glaubte man bis vor kurzem, ein in sich abgeschlossenes System von Gesetzen zu besitzen, durch das die Bahn der Himmelskörper mit beliebiger Präzision berechnet werden kann. Diesen Glauben hat nun die oben erwähnte Lorentztransformation und die sich daran anschließende Einsteinsche Relativitätstheorie in der Tat zerstört. Freilich sind die Abänderungen, die an der ursprünglichen Theorie anzubringen sind, so klein, daß sie beim gegenwärtigen Stande der Forschung außer im Falle der Berechnung der sonnennahen und stark elliptischen Merkurbahn vernachlässigt werden können. Aber im Prinzip muß natürlich jede von den Astronomen bisher ausgeführte Rechnung geändert werden. Und gerade auf diese prinzipielle Seite der Frage, nicht auf den numerischen Betrag der Korrektur, kommt es uns hier an. Also, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, die Werke von Galiläi und Newton sind herrlich wie am ersten Tag, aber die endgültigen Gesetze der Bewegung der Himmelskörper haben sie uns nicht gebracht. Daß etwa die Relativitätstheorie diesen Abschluß bringt, wird niemand behaupten wollen; schon die absolute Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, mit der sie operiert, wird sich vielleicht bald als eine Annäherung herausstellen.

Ein zweites, nicht minder berühmtes Beispiel liefert uns die Theorie der elektrischen Fernwirkungen. Auch den Formeln von Coulomb und Ampère wohnte ein unzerstörbarer Wahrheitskern inne, aber erst Maxwell gab die großartige Zusammenfassung und Erweiterung jener Gesetze. Die Quantentheorien der Strahlung von Planck und Bohr sind jedoch mit Maxwells Theorie, angewandt auf die Bewegung des einzelnen Elektrons, unvereinbar, so daß niemand mehr zweifelt, daß auch die Maxwellsche Theorie der elektrischen Fernkräfte in ihrer Anwendung an Grenzen gestoßen ist.

Nun könnte man denken, daß die erwähnten Naturgesetze und andere, denen es ähnlich gegangen ist, immerhin in gewissen Gebieten absolut genau gelten und daß die Sache sehr einfach in Ordnung gebracht werden könnte, indem man die Grenzen angibt, innerhalb deren sie gültig bleiben. Für alle praktischen Anwendungen trifft dies auch vollkommen zu; und wir durften daher auch den Entdeckungen von Galiläi, Newton, Fourier, Ampère, Clausius, Maxwell usw. Ewigkeitswerte zuschreiben. Streng logisch betrachtet aber liegt die Angelegenheit weit katastrophaler. Wenn ein allgemeines Naturgesetz außerhalb gewisser Grenzen merklich ungenau wird, so lastet der Fluch dieser Ungenauigkeit auf jeder Anwendung, selbst innerhalb jener Grenzen, nur daß hier die Fehler auf zurzeit unmeßbar kleine Beträge sinken.

Setzt man die Existenz vollkommen strenger Naturgesetze als gesichert voraus, was man bisher wohl allgemein tat, so ergibt sich als notwendige Folgerung das sogenannte Kausalitätsprinzip. Nehmen wir zur Veranschaulichung desselben, ein in sich abgeschlossenes, endliches System an, dessen Zustand uns in allen Einzelheiten bekannt sei, und setzen wir die Naturgesetze, soweit sich für die darin sich abspielenden Vorgänge erforderlich sind, ebenfalls als bekannt voraus, so müßte ein Geist, der alle rechnerischen Schwierigkeiten zu überwinden imstande ist, die Zukunft des Systems bis in alle Einzelheiten vorauszusagen imstande sein, und er könnte natürlich auch die Vorgeschichte des Systems rückwärts ableiten. Ist es ferner erlaubt, auch die ganze Welt als ein derartiges, abgeschlossenes, endliches System zu betrachten, so würde man dem betreffenden Geiste Allwissenheit für Vergangenheit und Zukunft zuschreiben müssen.

Dieser Gedanke wurde bekanntlich zuerst in voller Klarheit von dem berühmten Astronomen Laplace entwickelt, und man spricht daher auch kurz von dem "Laplaceschen Geiste" und von der "Laplaceschen Weltformel".

Um die Konsequenzen dieser Möglichkeit auf die Spitze zu treiben, schloß man, natürlich nicht ohne Ironie, daß, bei genauer Kenntnis von Goethes Konstitution und aller einwirkenden äußeren Umstände, jener Geist mit Hilfe der betreffenden Naturgesetze den Faust wörtlich in die Feder diktieren könnte, und natürlich nicht nur den gedruckten Faust, sondern auch alle früheren Entwürfe. Von naturwissenschaftlicher Seite hat niemand mit so anmutiger Beredsamkeit die praktische Leistungsfähigkeit der Laplaceschen Weltformel geschildert, als unser großer Berliner Physiologe du Bois-Reymond [5]: "In der Tat, wie der Astronom nur der Zeit in den Mondgleichungen einen gewissen negativen Wert zu erteilen braucht, um zu ermitteln, ob, als Perikles nach Epidaurus sich einschiffte, die Sonne für den Piräus verfinstert ward, so könnte der von Laplace gedachte Geist durch geeignete Diskussion seiner Weltformel uns sagen, wer die eiserne Maske war oder wie der "President" zugrunde ging. Wie der Astronom den Tag vorher sagt, an dem nach Jahren ein Komet aus den Tiefen des Weltraumes am Himmelsgewölbe wieder auftaucht, so läse jener Geist in seinen Gleichungen den Tag, da das Griechische Kreuz von der Sophienmoschee blitzen oder da England seine letzte Steinkohle verbrennen wird. Setzte er in der Weltformel t = -¥, so enthüllte sich ihm der rätselhafte Urzustand der Dinge". - Übrigens lehnte du Bois-Reymond die Existenz der Weltformel seinerzeit als unmöglich ab, indem er, allerdings wohl mehr aus gefühlsmässigen Gründen, zu seinem berühmten "Ignorabimus" gelangte. - Daß die Willensfreiheit, wie sie jedes menschliche Wesen klar zu empfinden glaubt, mit der exakten Weltformel unvereinbar ist, brauchen wir wohl kaum noch zu betonen.

Kann nun aber Philosophie und Naturforschung wirklich mit Sicherheit behaupten, daß z. B. jede menschliche Handlung das eindeutige Ergebnis des gerade herrschenden Zustandes sei? Wenn absolut strenge Naturgesetze alles Geschehen beherrschen, wird man sich dieser Schlußfolgerung in der Tat kaum entziehen können. Aber konstatieren wir zunächst, daß, wie wir gesehen haben, es der menschlichen Forschung bisher jedenfalls nicht gelungen ist, auch nur ein einziges strenges Naturgesetz ausfindig zu machen, und daß wir daher zweifellos den Boden der Erfahrung verlassen, wenn wir die Existenz vollkommen strenger Naturgesetze, wie es z. B. Laplace tat, ohne weiteres als gegeben voraussetzen. Die Möglichkeit dürfen wir also nicht in Abrede stellen, daß auch das Prinzip der Kausalität das Schicksal unserer Naturgesetze teilt, auf denen es beruht, nämlich ebenfalls nicht mehr als eine im allgemeinen sehr gute Annäherung zu sein.

Versuchen wir, um uns der Entscheidung dieser Kardinalfrage zu nähern, den Charakter unserer Naturgesetze klarer zu veranschaulichen. Unter allen Gesetzen nehmen diejenigen der sogenannten Thermodynamik eine besondere Stellung ein, weil sie nicht, wie die anderen, spezieller Natur, sondern auf jeden denkbaren Vorgang anwendbar sind. Wie Boltzmann zeigte, läßt sich der sogenannte zweite Hauptsatz der Wärmetheorie darauf zurückführen, daß immer der wahrscheinlichere Zustand sich von selbst einstellt; die Moleküle zweier verschiedener Gase z. B. vermischen sich, weil die vollständige Durchmischung dem Zustande größter Wahrscheinlichkeit entspricht. An sich wäre es durchaus denkbar, daß zwei gemischte Gase sich auch zeitweilig entmischen, indem die eine Art von Molekülen in der einen, die andere Art von Molekülen in der anderen Hälfte des Gefäßes sich ansammelt. Träte dieser höchst unwahrscheinliche Fall einmal ein, so wäre der zweite Hauptsatz verletzt, aber man kann rechnerisch abschätzen, daß eine solche spontane Trennung zweier Gase noch viel unwahrscheinlicher ist, als daß ein Mensch sein ganzes Leben lang im Würfelspiel immer nur Sechsen wirft.

So tritt also eines unserer bedeutungsvollsten Naturgesetze durchaus nicht mit der Forderung auf, mit absoluter Notwendigkeit erfüllt zu sein, sondern in dem viel bescheideneren Gewande einer, allerdings ganz ungeheuer großen, Wahrscheinlichkeit dafür, daß es im speziellen Falle auch wirklich zutrifft.

So sagte denn auch 1913 Prof. v. Smoluchowski [6] auf dem Göttinger Wolfskehlkongreß: "Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik hat seine Stellung als unerschütterliches Dogma, als eines der Grundprivilegien der Physik ein für allemale eingebüßt. Dabei ist seine enorme, praktische Bedeutung allerdings durchaus nicht geschmälert, aber theoretisch ist er zu einer nur sehr angenähert gültigen Regel herabgesunken."

Verschiedene Gründe lassen uns nun, wie mir scheint, vermuten, daß der zweite Hauptsatz nicht etwa eine Ausnahmestellung einnimmt, sondern daß vielmehr alle unsere Naturgesetze von gleichem Charakter sind.

Würden dadurch letztere degradiert oder gar völlig entwertet werden? Ganz gewiß nicht. Ebenso wenig, wie, um noch einmal das gleiche triviale, aber zutreffende Beispiel zu benutzen, das Würfelspiel verschwunden ist, weil der Fall eintreten könnte, daß eine Spielergemeinschaft den ganzen Abend hindurch nur Sechsen wirft, wodurch das Spiel aufhören würde, ein Spiel zu sein, ebenso wenig hat die erwähnte Auffassung des zweiten Hauptsatzes seine ungeheure Bedeutung auch  nur im geringsten beeinträchtigt; der logischen Überbeanspruchung der Naturgesetze würde allerdings ein Ende bereitet werden, wenn die Vermutung sich bewahrheiten sollte, daß alle Naturgesetze nie ein Ergebnis mit absoluter Sicherheit, sondern immer nur mit sehr großer Wahrscheinlichkeit prophezeien. Die Gründe für diese Vermutung möchte ich zum Schluß noch ganz kurz erläutern.

Ihnen allen ist bekannt, wie außerordentlich ergiebig für die Entwicklung unserer Naturerkenntnis das Studium der radioaktiven Erscheinungen geworden ist; ihre Gesetze sind als weitgehend erforscht zu bezeichnen. Betrachten wir etwa 1 gr Radium, so wissen wir, daß nach einer bestimmten Zeit, in diesem Falle rund 2000 Jahre, die Hälfte des Präparats zerfallen ist, nach weiteren 2000 Jahren wiederum die Hälfte des Restes u. s. f. Dies bedeutet, daß, ähnlich wie bei vielen chemischen Reaktionen, während einer gegebenen Zeit immer ein gleicher Bruchteil sich umsetzt.

Nun aber wollen wir uns weiter fragen, wie ist es zu erklären, daß von einer Anzahl Radiumatomen das eine schon in der nächsten Sekunde, ein anderes erst nach einem Jahrtausend und ein drittes erst nach Millionen Jahren sich spaltet? Bei den chemischen Prozessen erklärte man sich den analogen Vorgang bisher so, daß durch die Energie der Wärmebewegung das eine Molekül in diesem Augenblicke, ein zweites aber erst in späterer Zeit, wenn gerade wiederum ein anderes Molekül mit hoher lebendiger Kraft daraufstößt, zertrümmert wird. Diese Analogie läßt uns bei der Radioaktivität aber völlig im Stich, weil erfahrungsgemäß durch die Intensität der Wärmebewegung in keiner Weise die Geschwindigkeit der radioaktiven Umwandlung beeinflußt wird.

Überlegungen, die ursprünglich von ganz anderen Gesichtspunkten ausgingen, haben nun aber zu der Auffassung geführt, daß im Lichtäther in der Form der sogenannten Nullpunktsenergie ungeheure Energiebeträge aufgespeichert sind [7]. Auf ganz verschiedenen Wegen sind von verschiedenen Autoren als die untere Grenze dieser Energiebeträge Größen ermittelt worden, die im Vergleiche mit uns sonst bekannten Energieänderungen geradezu ungeheuerlich groß sind. Im Einklang mit früheren Erwägungen hat dann auch ganz neuerdings Prof. Wiechert in Göttingen die Vermutung geäußert, daß die Schwankungen der Nullpunktsenergie es seien, die den explosiven Zerfall des Atoms eines radioaktiven Elementes auslösten. Von anderen Seiten ist wiederum auf Grund ganz anderer Erwägungen vermutet worden, daß auch bei manchen chemischen Reaktionen die Schwankungen der Wärmebewegungen nicht ausreichten, um den chemischen Umsatz einzuleiten, sondern daß auch hier die Schwankungen der Nullpunktsenergie mitwirkten. Schließlich scheint es, als ob auch manche kosmischen Erscheinungen ohne Benutzung einer solchen Nullpunktsnergie nicht verständlich sein würden. So handeln wir also kaum unzweckmäßig, wenn auch wir diese Auffassung als "Arbeitshypothese" zuhilfe ziehen.

Nun wollen wir den physikalisch denkbar einfachsten Fall betrachten, nämlich den Vergleich zweier gleichartiger Gasmassen. Und zwar soll in den betrachteten beiden gleich großen Gasbehältern zu einer bestimmten Anfangszeit die Gleichartigkeit so weit gehen, daß jedes einzelne Molekül des einen Behälters in dem anderen ein Gegenstück findet, welches an der gleichen Stelle sich befindet und in dem betrachteten Zeitmoment genau die gleichen Geschwindigkeitskomponenten besitzt. Das Prinzip der Kausalität in der bisherigen Fassung würde verlangen, daß auch nach beliebig langer Zeit die Gleichartigkeit im obigen Sinne erfüllt bleibt, trotzdem jedes einzelne Molekül in seiner Wärmebewegung nicht nur seinen ursprünglichen Platz längst verlassen, sondern auch seinen ursprünglichen Bewegungszustand vollkommen geändert hat.

Ganz anders müssen wir den Ablauf des Geschehens in den beiden Gasbehältern auffassen, wenn wir die erwähnte Nullpunktsenergie berücksichtigen. Die Nullpunktsenergie des Lichtäthers muß natürlich, wenn auch vielleicht nur ab und an, die Bahn eines Moleküls durch ihre Schwankungen beeinflussen. Und wenn auch nur die Bahn eines einzelnen Moleküls um ein Weniges in ihrer Richtung sich ändert, so wird dies zur Folge haben, daß nach kurzer Zeit die Anordnung aller Moleküle eine ganz andere sein wird, als ohne diese Beeinflussung. Die beiden Gasmassen werden also trotz gleicher Anfangsbedingungen nach einiger Zeit total verschieden werden; natürlich nicht bezüglich der Größen, die wir für gewöhnlich messen, wie z. B. des Gasdrucks, der auf einer Mittelwertsbildung beruht, wohl aber bezüglich der Bewegung suspendierter Staubteilchen, der sogenannten Brownschen Bewegung, die wir beobachten können und die uns ein, wenn auch stark vergröbertes, Abbild der Wärmebewegung liefert.

Nun kann man natürlich sagen, daß zur völligen Gleichartigkeit der beiden Gasmassen auch eine Gleichartigkeit der durch die Nullpunktsenergie des Lichtäthers hervorgerufenen Störungen gehört, und man kann auf diesem Wege das Prinzip der Kausalität [8] in der ursprünglichen Fassung retten. Aber wie hypothetisch wäre diese Rettung? Einen Abschluß gegen die Nullpunktsenergie des Lichtäthers gibt es nicht, weil alle unsere materiellen Wände den aus ihr stammenden Störungen gegenüber sich wie weitmaschige Siebe verhalten müssen. Das Gesetz der Kausalität verlangt, daß bei gleichartigen Anfangsbedingungen zwei verschiedene Systeme einen gleichen Verlauf ihrer Änderungen zeigen; nun schließen wir aber, daß sich zwei derartige Systeme überhaupt nicht realisieren lassen.

Ein anderer Ausweg bestände darin, daß wir den gesamten Lichtäther, d. h. den gesamten Weltenraum, als ein in sich abgeschlossenes beliebig großes System betrachten. Aber dann kommen wir zu einem unendlich ausgedehnten System, dem gegenüber unsere Denkgesetze versagen.

So lehrt denn auch diese an der Hand einer spezielleren Hypothese durchgeführte Betrachtung, daß unsere Naturgesetze zwar befriedigend genau uns statistische Mittelwerte liefern, daß aber eine völlig genaue Beschreibung der Einzelvorgänge uns verschlossen ist.

Die gegenwärtige Sachlage läßt sich vielleicht durch folgendes Beispiel am anschaulichsten erläutern. Es ist durchaus denkbar, daß eine Lebensversicherungsgesellschaft auf Grund sorgfältiger Statistik und unter wissenschaftlicher Berücksichtigung der gerade herrschenden hygienischen Verhältnisse mit großer Genauigkeit die Zahl der Todesfälle pro Jahr in ihrem Bezirke anzugeben vermag; wendet sich aber das einzelne Individuum mit der Frage an die Gesellschaft, wie lange es noch zu leben hätte, so kann er keine Antwort erhalten.

Daß alle unsere jetzigen Naturgesetze statistischen Charakters sind und den letzten Einzelvorgängen gegenüber versagen, ist eine Konsequenz unserer "Arbeitshypothese"; über letztere kann man natürlich verschiedener Meinung sein, so sehr ich auch von der Berechtigung derselben oder einer ihr im Prinzip ähnlichen überzeugt bin; widerlegen läßt sie sich zurzeit gewiß nicht. Ob sich der Zustand der charakterisierten Unsicherheit je ändern wird, bleibt eine offene Frage, die ich persönlich allerdings verneinen möchte; der naturwissenschaftliche Dogmatiker wird sie bejahen [9].

Das Ergebnis unserer Betrachtungen fassen wir folgendermaßen zusammen:

Erfahrungsgemäß steht fest, daß unsere Naturgesetze provisorischen Charakters sind, den sie höchst wahrscheinlich nie verlieren werden, bisher wenigstens ist noch jedes Naturgesetz an Grenzen gelangt, außerhalb deren es uns merklich im Stiche läßt, innerhalb deren es zwar praktisch unmerklich, im Prinzip aber ebenso unrichtig wird. Es ist ferner wahrscheinlich, daß alle unsere Naturgesetze von dem Charakter des zweiten Wärmesatzes, d. h. wesentlich statistischen Charakters sind. Also auch innerhalb der oben angegebenen Grenzen könnte hiernach ein Naturgesetz gelegentlich einmal weitgehend versagen, nur ist das Eintreten dieses Falles so überaus unwahrscheinlich, daß bei den praktischen Anwendungen (im allgemeinen wenigstens) nicht damit zu rechnen ist.

Die logische Operation mit absolut genauen Naturgesetzen als einer Abstraktion kann andererseits niemanden verwehrt werden und daher darf man mit dem Prinzip der Kausalität in seiner strengsten Form ebenfalls logisch operieren, wenn man sich nur bewußt bleibt, daß man damit den Boden der Erfahrung verläßt und sich in das Gebiet rein spekulativen Denkens begiebt.

Man hat den exakten Naturwissenschaften wohl den Vorwurf gemacht, daß sie die philosophische Forschung tyrannisiert hätten. Vielleicht ist zuzugeben, daß die bisher übliche Fassung des Kausalitätsprinzips als eines absolut strengen Naturgesetzes wie spanische Stiefel den Geist einschnürte, und es ist daher wohl gegenwärtig Pflicht der Naturforschung, diese Fesseln soweit zu lockern, daß der freie Schritt des philosophischen Denkens nicht mehr behindert wird. -

Wenn über kein einziges Naturgesetz die Akten als geschlossen anzusehen sind, so war es natürlich heute doppelt unmöglich, über den Begriff des Naturgesetzes allgemein sich entgültig zu äußern. Überhaupt, in sich vollkommen Abgeschlossenes zu geben, vermag die Wissenschaft nicht; das Ringen des Forschers mit dem spröden Stoffe, der sich gegen die Bezwingung durch die logische Kraft des Gesetzes sträubt, wird stets vergleichbar bleiben dem Kampfe des Herakles mit der Lernaeischen Schlange; wohl gelingt es von Zeit zu Zeit, ihr ein Haupt abzuschlagen, alsbald züngeln zwei neue Köpfe hervor. Das darf uns aber nicht abschrecken. Der Held, der ein Haupt der Schlange als Trophäe nach Hause tragen darf, hat zugleich der Kulturmenschheit ein unzerstörbares Gut bescheert; neue Aufgaben regen ferner unausgesetzt zur erneuten Arbeit an. Die Wissenschaft ist eben keine Goldmine, die früher oder später ihrer Erschöpfung entgegengeht, sondern ein dankbarer Acker, der bei freilich oft sehr mühseliger Bearbeitung immer neue Früchte trägt.

Kommilitonen, ich darf nicht erwarten, daß es meiner Darstellung gelungen ist, Ihnen alle Einzelheiten zum lebendigen Verständnis gebracht zu haben. Aber nicht anders wird es Ihnen im kommenden Studienjahre in so mancher Vorlesung ergehen. Ja, ich behaupte sogar, der ist kein richtiger Professor, dessen Vorlesung von seinen Zuhörern in allen Punkten stets begriffen wird; vielmehr sind häufig dem Auditorium Ausblicke zu eröffnen, die dem einzelnen Hörer erst durch weiteres eingehendes Studium klar vor die Augen treten können. Sucht sich der Dozent mit jedem Satze dem Niveau seiner Zuhörerschaft anzupassen, so kann er der Gefahr nicht entgehen, unter dies Niveau zu sinken, und das ist das Schlimmste, was ihm passieren kann. Also lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn Ihnen bei Ihrem Studium bisweilen scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten entgegentreten; um so größer der Gewinn, wenn der Stoff durch eigene Arbeit von Ihnen gemeistert wird!

Und noch weniger, Kommilitonen, werden Sie daran Anstoß nehmen, daß Ihnen in den Vorlesungen nicht überall der Weisheit letzter Schluß vorgesetzt werden kann; so manches mußte auch ich heute als vorläufige Hypothese bezeichnen. In der lebendigen Wissenschaft gilt es immer, auch das Werdende zu schauen, nicht nur das Fertige; große Fragen und hohe Ziele erscheinen stets am fernen Horizont:

Steigt nach unten, fliegt nach oben,
Reiche Nibelungenschätze liegen rings noch ungehoben!

In dieser Zuversicht, verehrte Herren Kollegen und liebe Kommilitonen, laßt uns an unsere Arbeit gehen.


[1] Vgl. Boltzmann, Populäre Schriften S. 95 (Gedächtnisrede auf J. Stefan).

[2] Vorträge und Reden II S. 339.

[3] Ges. Werke I S. 344.

[4] Vortrag über Relativitätstheorie (Leipzig 1921 bei A. Barth).

[5] Reden I S. 443 (1871).

[6] Göttinger Vorträge S. 90 (1914 bei Teubner in Leipzig).

[7] Vgl. darüber Nernst, Verhandl. d. D. phys. Ges. 18 p. 83 (1916); E. Wiechert, "Der Äther im Weltbild der Physik" (Berlin 1921 bei Weidmann); M. Polanyi, Zeitschr. f. Physik 3 p. 3 (1920). - Zweifellos sind die bisherigen Auffassungen der Nullpunktsenergie des Lichtäthers noch ganz provisorischer Natur; daß aber ähnliche Betrachtungen sich als notwendig herausstellen werden, erscheint bereits heute als überaus wahrscheinlich. Für die vorliegende kritische Studie Studie genügt es natürlich vollkommen, wenn derartige Auffassungen als möglich gelten können und dies wird niemand bestreiten wollen.

[8] Zum Prinzip der Kausalität vgl. von neueren Untersuchungen M. Schlick, Naturwissenschaften 8 p. 461 (1920); ferner besonders W. Schottky ibid. 9 p. 492 und 506 (1921). Der letztere Autor erklärt es vom Standpunkte der Quantentheorie für möglich, dass "die Ansichten über den Kausalzusammenhang der Naturereignisse vollständig umgestaltet werden müssten". - Am weitesten geht wohl, worauf ich nachträglich hingewiesen wurde, H. Weyl mit dem Ausspruch: "Es muss einmal klipp und klar gesagt werden, dass die Physik bei ihrem heutigen Stande den Glauben an eine auf streng exakten Gesetzen beruhende geschlossene Kausalität der materiellen Natur gar nicht mehr zu stützen vermag." (Allg. Relativitätstheorie 1921 S. 283).

[9] Zur physikalischen Erläuterung ist folgende Versuchsanordnung geeignet. Ein Radiumpräparat sende Heliumatome auf eine Diamantplatte; jeder einzelne Anprall ist beobachtbar. Das Gesetz der auf einer gegebenen Diamantfläche während eines längeren Zeitraums auftretenden Szintillationen ist als Mittelwertsgesetz genau bekannt; über den Zeitabstand zwischen zwei einzelnen Szintillationen aber und über den Ort des Auftretens derselben wissen wir gar nichts vorauszusagen. Ob über diese Einzelvorgänge bei dem gegenwärtigen Stande der theoretisch-physikalischen Methodik Klarheit zu gewinnen sein wird, das ist die offene Frage. Wir müssen m. E. mit der Möglichkeit rechnen, dass für das Problem der quantitativen Berechnung dieser Einzelvorgänge unser Denkvermögen versagt. Damit ist das Ergebnis der vorliegenden kritischen Studie auf eine physikalisch vollkommen präzise Fragestellung zurückgeführt. Wie die Antwort einst ausfallen wird, darüber werden verschiedene Forscher gegenwärtig natürlich ganz verschieden denken.


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Revised 2003-09-22