Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 40, 4617 - 4626, 1907

Vier Vorträge über die wichtigsten Fortschritte der chemischen Disziplinen in den letzten 40 Jahren, gehalten von den Herren W. Nernst, H. Landolt, C. Graebe, O. N. Witt am 11. November 1907 in der Festsitzung zur Erinnerung an die vor 40 Jahren erfolgte Gründung der Deutschen Chemischen Gesellschaft.


W. Nernst: Die Entwicklung der allgemeinen und physikalischen Chemie.

Wenn Physik und Chemie auch im Prinzip nach genau der gleichen Methode arbeiten und dasselbe Ziel im Auge haben, nämlich, wie es Helmholtz für die Physik so kurz charakterisiert hat, "die geistige Bewältigung der uns anfangs fremd gegenüberstehenden Natur durch die logische Form des Gesetzes", so brachte doch die Verschiedenartigkeit der Aufgaben und Hilfsmittel im einzelnen eine Trennung der beiden Disziplinen mit sich. Als Folge davon, daß die Arbeitskraft des Physikers und Chemikers durch die speziellen Aufgaben seines Gebietes in Anspruch genommen war, blieb ein weites Grenzgebiet zwischen den beiden Wissenschaften lange Zeit vernachlässigt, und erst etwa mit dem Zeitraum, den meine Übersicht umfassen soll, fällt das Erwachen eines lebhafteren Interesses für die physikalische und theoretische Chemie zusammen.

Es wird wohl niemand in Abrede stellen, daß in der theoretischen Beherrschung des Gegenstandes die Physik lange Zeit einen Vorsprung besaß und zum Teil noch besitzt. Es ist auch leicht einzusehen, warum es nicht anders sein konnte. Der Physiker bedarf bei der Untersuchung seiner Aufgaben häufig nur eines relativ kleinen experimentellen Materials, um dann sofort an die theoretische Bezwingung des betreffenden Erscheinungsgebietes zu gehen; so braucht er, um nur ein Beispiel zu nennen, von der atmosphärischen Luft nur die Dichte bei einer einzigen Temperatur und einem Druck zu kennen, um sodann lediglich mit Hilfe der Gasgesetze und der Prinzipien der Wärmetheorie die Lehre von den Schallschwingungen und damit die Grundlagen der Akustik mathematisch-physikalisch in weitestem Umfang entwickeln zu können. Was für andere und mannigfaltigere Aufgaben hat der Chemiker bei der atmosphärischen Luft zu lösen, sei es, daß es sich um die Klarstellung ihrer Zusammensetzung bis in die letzten Einzelheiten, sei es, daß es sich um die merkwürdigen, komplizierten Gleichgewichte handelt, die sich bei hohen Temperaturen einstellen.

Heute besitzt die Chemie ein theoretisches Lehrgebäude, welches den Vergleich mit der Physik nicht zu scheuen braucht. Welche Fülle von experimentellem Material findet sich nicht geordnet in der Atomgewichtstabelle, was kann der Kundige den Zahlen nicht alles entnehmen, teils in quantitativer Form, wie z. B. Zusammensetzung, spezifische Wärmen, Dampfdichten, Gefrierpunktserniedrigungen usw. für zahllose Substanzen, was kann er nicht alles, wenn man noch den so glücklichen Kunstgriff der periodischen Anordnung zu Hilfe nimmt, wenigstens in allgemeinen Zügen über viele andere physikalische und chemische Eigenschaften voraussagen. Gerade der Umstand, daß so überaus viel Material gesammelt werden mußte, hatte zur Folge, daß, nachdem einmal dessen Ordnung geglückt war, der Erfolg sich um so größer erwies. Die Lehre von der Konstitution organischer Verbindungen bietet hierfür ein gutes Beispiel. Wenn demnächst in einer neuen Auflage des "Beilstein" seitens unserer Gesellschaft die organischen Verbindungen gesammelt werden sollen, so wird es sich um weit über 100000 Strukturformeln handeln, wie ein vorläufiger Überschlag des Hrn. Herausgebers lehrte. Nur an der Hand der eben erwähnten Theorie ist ein großer Teil dieser Verbindungen gefunden worden, und nur mit ihrer Hilfe kann das riesige Material einer systematischen Ordnung und Beschreibung unterworfen werden. Und wenn wir ferner bedenken, was der Fachmann alles aus den Strukturformeln herauszulesen vermag, und welche Fülle von experimentellem Material häufig zur Aufstellung einer einzigen Strukturformel erbracht werden mußte, so steht, was die Quantität des logisch bezwungenen Beobachtungsmaterials anlangt, zweifellos die Theorie der Konstitution organischer Verbindungen an der Spitze aller Theorien, die der Menschengeist ersonnen hat.

Eine weitere Folge der Entwicklung der Chemie in theoretischer Hinsicht besteht darin, daß experimentelles und theoretisches Arbeiten schon vielfach gar nicht mehr zu trennen ist, weil eben die meisten Zweige der Chemie von der Theorie vollständig durchdrungen sind. So wird denn dementsprechend es heute nicht meine Aufgabe sein können, eine Übersicht über die gesamte theoretische Chemie zu geben; vielmehr wird z.B. die Lehre von dem periodischen System der Elemente der zweite, die Entwicklung der Strukturchemie organischer Verbindungen der dritte Hr. Redner beleuchten; eine Darstellung dieser Gebiete, getrennt von der leitenden und ordnenden Theorie, würde geradezu eine Zeitvergeudung bedeuten.

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Als ersten Abschnitt unserer Übersicht wollen wir die Beziehungen zwischen physikalischen Eigenschaften und chemischer Konstitution betrachten, die etwa in der ersten Hälfte der Berichtszeit das Hauptgebiet der physikalisch-chemischen Forschung bildeten.

Der Überblick über diese Arbeiten wird sehr erleichtert durch eine systematische Bezeichnungsweise, nach der sich diese Eigenschaften in drei Gruppen teilen.

Zunächst gibt es der Messung zugängliche Größen, die unmittelbar einen Schluß auf die Größe des Molekulargewichts gestatten, und die man kurzweg als "molare Eigenschaften" bezeichnen kann. Unter diesen steht, wie schon Avogadro zeigte, die Dichte der Gase obenan, aber erst der neueren Zeit blieb es vorbehalten, in den Methoden zur direkten oder indirekten Messung des osmotischen Drucks zugleich Molekulargewichtsbestimmungen der gelösten Substanzen zu erblicken. Zur Bestimmung des Molekulargewichts von Flüssigkeiten liefert vor allem die Messung des Temperaturkoeffizienten der Oberflächenspannung einen Anhalt; zum gleichen Zweck können auch die Verdampfungswärme, die kritischen Daten, Dampfdruckkurven und eine Reihe anderer Eigenschaften mehr oder minder sichere Verwendung finden. Alle diese Methoden führen in völliger Übereinstimmung untereinander zu dem Resultat, daß die meisten Stoffe, z. B. alle gesättigten Kohlenwasserstoffe, im Flüssigkeitszustand das gleiche Molekulargewicht wie im Gaszustand besitzen, daß aber eine Reihe von Substanzen, wie die Alkohole und vor allem das Wasser, im flüssigen Zustand sich mehr oder weniger stark polymerisieren. Wie groß aber der Polymerisationsgrad im einzelnen ist, was für ein Gleichgewicht sich bei reinen Flüssigkeiten herstellt - diese hochinteressante Frage entzieht sich leider noch der genauen, messenden Verfolgung.

Als wichtigste Ergebnisse dieser neuen Methoden der Molekulargewichtsbestimmung, speziell der osmotischen Methode, sei erstens die Klarstellung des Wesens der kolloidalen Lösungen als eines Übergangs zwischen den wahren Lösungen und den mechanischen Suspensionen erwähnt, zweitens die nähere Präzisierung des Begriffs "Ion" genannt, worauf wir noch weiter unten eingehen werden.

Eine zweite Reihe von Eigenschaften bezeichnet man als "additive". Die Eigenschaft der Verbindung ist hier gleich der Summe der Eigenschaften der Komponenten. Es ist dies offenbar das einfachste Verhalten, das man sich denken kann, aber zugleich entfällt jeder Schluß auf die Größe und den Bau des Moleküls; außer dem Molekularvolumen flüssiger organischer Verbindungen seien hier Molekularrefraktion, magnetische Drehung, Verbrennungswärme und der kritische Koeffizient genannt.

Eine dritte Reihe von Eigenschaften hängt nicht nur von der Art der Atome, die im Molekül vorhanden sind, sondern auch von ihrer Anordnung im Molekülverband ab, und man bezeichnet sie daher zweckmäßig als "konstitutive"; so wird die Molekularrefraktion von Kohlenwasserstoffen nicht nur von der Zahl der Kohlenstoff- und Wasserstoffatome bedingt, sondern auch davon, ob mehrfache Bindungen zwischen Kohlenstoffatomen vorhanden sind. Hier wurde ein bedeutsamer Erfolg dadurch erzielt, daß man der Doppelbindung ein bestimmtes Refraktionsequivalent zuschrieb und so durch eine Zurückführung auf die additive Form dem Einfluß der Konstitution mit großer Annäherung Rechnung tragen konnte.

Häufig treten gewisse Eigenschaften nur bei ganz bestimmten Atomgruppierungen auf; in diesem Falle ist schon eine qualitative Feststellung von höchstem Werte, indem umgekehrt aus dem Auftreten dieser Eigenschaften auf das Vorhandensein bestimmter Konstitutionsformen geschlossen werden kann. Das klassische Beispiel bietet hier das optische Drehungsvermögen der Kohlenstoffverbindungen, das an die Existenz eines oder mehrerer asymmetrischer Kohlenstoffatome (oder ähnlicher asymmetrischer Gebilde) im Molekül gebunden ist. Ähnlich kann man bei organischen Verbindungen aus dem Auftreten von Farbe, oder richtiger, von gewissen charakteristischen Absorptionsbanden, sowie von Fluorescenz auf gewisse Gruppierungen im Molekül schließen. In die gleiche Kategorie von Eigenschaften gehört im weiteren Sinne die elektrolytische Leitfähigkeit, die die Existenz freier Ionen, d. h. Verbindungen von Elementen oder Radikalen mit Elektronen, anzeigt; das Auftreten ferner des maximalen Wertes 5:3 für das Verhältnis der spezifischen Wärmen eines Gases ist nach der kinetischen Gastheorie an die Bedingung der Einatomigkeit geknüpft - eine Schlußfolgerung, die bekanntlich zuerst auf den Dampf des Quecksilbers angewandt wurde und in neuester Zeit zur Feststellung des Atomgewichts der Elemente der Argongruppe unschätzbare Dienste geleistet hat.

Im letzten Grunde sind übrigens wahrscheinlich alle Eigenschaften konstitutiv, und die Annahme eines rein molaren oder rein additiven Verhaltens ist immer nur eine mehr oder weniger weitgehende Annäherung; häufig sogar haben sich auf Gebieten, die man speziell durch das additive Schema schon weitgehend aufgekärt glaubte, bei näherer Untersuchung über Erwarten große Schwierigkeiten herausgestellt. Um so mehr verdient hervorgehoben zu werden, daß wenigstens in einem speziellen Falle die Theorie sich, wie es scheint, mit der letzten Genauigkeit durchführen ließ.

Es ist dieses nämlich bei den Dichten der Gase geglückt, die lange Zeit das einzige Mittel zur Molekulargewichtsbestimmung boten; wegen der Abweichung, welche alle wirklichen Gase von den Gesetzen der idealen Gase zeigen, handelte es sich hier natürlich zunächst ebenfalls nur um eine Näherungsmethode. Man hat nun in neuerer Zeit mit Hülfe der Formel von van der Waals, speziell unter Benutzung der Kompressibilität, die Gase auf den idealen Gaszustand zu reduzieren gelernt, und es zeigte sich, daß man nunmehr zu völlig exakten Werten der relativen Molekulargewichte gelangte.

Damit wurde zweierlei erreicht: zunächst wurde das wichtigste molekulartheoretische Gesetz, das wir besitzen, nämlich die Regel von Avogadro, als ein, wie es scheint, unbegrenzt genaues Naturgesetz erwiesen; zweitens aber wurde zugleich eine neue (rein physikalische) Methode der Bestimmung von Atomgewichten gewonnen, die sich an Genauigkeit mit der analytisch-chemischen Methode messen kann, aber natürlich auf den Fall beschränkt bleibt, daß man Dichte und Kompressibilität chemisch einheitlicher Gase exakt zu messen vermag.

Die Lösung der Aufgabe, auch für andere physikalische Eigenschaften Experiment und Theorie ähnlich weit zu führen, wie es in dem eben erwähnten Falle gelungen ist, scheint noch in weiter Ferne zu liegen; im allgemeinen ist die Genauigkeit und damit auch zugleich die Sicherheit der theoretischen Behandlung erheblich weiter auf dem Gebiete der Verwandtschaftslehre gediehen, mit dem wir uns nunmehr beschäftigen wollen.

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Bei der theoretischen Betrachtung der Naturprozesse hat es sich im allgemeinen als notwendig herausgestellt, zunächst immer nur sehr kleine Änderungen des betrachteten Systems ins Auge zu fassen; bei einer Änderung in erheblichem Maße finden in der Regel so mannigfache Begleiterscheinungen statt, daß unser geistiges Auge sie nicht mehr zu überschauen vermag. So sehen wir denn auch in der theoretischen Physik die Quintessenz fast aller Theorien dargestellt durch eine Differentialgleichung, d. h. eine mathematische Formel, die nur unendlich kleine Änderungen betrachtet. Es besitzt daher die Aufstellung einer Differentialgleichung (vorausgesetzt natürlich, daß sie etwas taugt) eine symptomatische Bedeutung für eine Wissenschaft, indem ihre Brauchbarkeit beweist, daß man einen tiefen Blick in das Wesen des betreffenden Erscheinungsgebietes getan hat. Es sind zufällig 40 Jahre her, daß in der Chemie hier ein selten glücklicher Griff gelang, nämlich die Aufstellung des Gesetzes der chemischen Massenwirkung.

Ich entsinne mich noch lebhaft der großen Überraschung, die ich empfand, als mir zum ersten Male eine Differentialgleichung über die Reaktionsgeschwindigkeit der Esterverseifung zu Gesichte kam, und vor allem, als sich aus den Beobachtungstabellen ergab, wie scharf sich das Integral dieser Gleichung experimentell bestätigen ließ. Wie turbulent, wie unregelmäßig, wie von vielen Zufälligkeiten abhängig erweisen sich auf den ersten Blick die chemischen Vorgänge; das Gesetz der chemischen Massenwirkung lehrt aber, daß, wenn man nur die sekundären Erscheinungen der Übersättigung und dergleichen ausschließt, wenn man die Temperatur konstant erhält, und wenn man vor allem ein homogenes chemisches System ins Auge faßt, daß wir dann vollkommen klar präzisierte und mit mathematischer Strenge berechenbare Vorgänge vor uns haben.

Das Gesetz der Massenwirkung liefert zugleich das Gesetz der chemischen Statik und dasjenige der chemischen Kinetik; damit gibt es zugleich den Rahmen für die experimentelle Untersuchung des chemischen Gleichgewichts und der chemischen Reaktionsgeschwindigkeit. Und so möchte ich es denn als das wichtigste Ergebnis der letzten 40 Jahre auf unserem Gebiete hinstellen, daß wir nicht nur über die Gesetze des chemischen Gleichgewichts und der Reaktionsgeschwindigkeit informiert sind, sondern vor allem bereits über ein riesiges experimentelles Material verfügen, welches durch das Gesetz der Massenwirkung logisch bezwungen ist.

Dieses Gesetz ist, wie erwähnt, von allgemeinster Bedeutung; aber erfahrungsgemäß bringen allgemeine Theorien nur wenig Gewinn: die wahren Erfolge erzielt man immer erst durch glückliche Spezialisierung. Die organische Chemie, charakterisiert durch die Trägheit der Kohlenstoffbindung, bot ein weites Gebiet für die Anwendung der chemischen Kinetik; die Lösungen von Salzen, Säuren, Basen in Wasser, charakterisiert durch den praktisch momentanen Verlauf einer gewissen Kategorie von chemischen Reaktionen, lieferten dadurch ein unerschöpfliches Gebiet chemischer Gleichgewichte.

Und hier griff in hohem Maße helfend die Lehre von der elektrolytischen Dissoziation ein, die sich zwar im wesentlichen aus den Experimentalarbeiten über die elektrische Leitfähigkeit verdünnter Salzlösungen entwickelte, aber an der osmotischen Methode der Molekulargewichtsbestimmung den ersten sicheren experimentellen Untergrund fand.

Die Bedeutung dieser Lehre geht ja weit über das eigentliche Gebiet der Chemie hinaus; wollen wir aber kurz ihre Nutzanwendung auf die chemischen Prozesse charakterisieren, so besteht der durch diese Theorie erzielte Gewinn darin, daß er eine präzise Anwendung der Gesetze der chemischen Statik auf die charakterisierten wäßrigen Lösungen und damit auf die Mehrzahl der Reaktionen der gewöhnlichen analytischen Chemie ermöglicht hat.

Die weitere Ausbildung dieser Lehre hat zu einer sehr eingehenden Theorie des Gleichgewichts in verdünnten Lösungen und insbesondere auch zu dem Nachweis geführt, daß, wenn man die Dissoziations- und Löslichkeitskoeffizienten der aus den verschiedenen Ionen zu kombinierenden elektrisch-neutralen Molekülgattungen für ein Lösungsmittel kennt, das Gleichgewicht in diesem Lösungsmittel berechnet werden kann; kennt man außerdem noch die sogenannten Verteilungskoeffizienten, so ist das Gleichgewicht auch in beliebigen anderen Lösungsmitteln gegeben.

Wegen der Einfachheit des Gaszustandes sollte man erwarten, daß die Anwendung des Gesetzes der Massenwirkung hierauf besonders lohnend wäre. Es liegt hier nun die Sache so, daß wir bei niederen Temperaturen im allgemeinen sehr kleine Reaktionsgeschwindigkeiten haben, ähnlich wie bei vielen Reaktionen der organischen Chemie; bei sehr hohen Temperaturen aber stellt sich, analog wie bei den Ionenreaktionen, das Gleichgewicht praktisch momentan ein. Gerade auf diesem Gebiete haben sich aber, was die niederen Temperaturen anlangt, schwer kontrollierbare katalytische Einflüsse, bei höheren Temperaturen die in der Natur der Sache liegenden experimentellen Schwierigkeiten hindernd in den Weg gestellt. Aber es ist zu hoffen, daß auch für das Gebiet der Gasreaktionen, das von den verschiedensten Seiten in letzter Zeit eifrig bearbeitet wurde, bald ein reiches Material und eine entsprechende theoretische Ausbeute erlangt werden wird. -

Ein zweites Gebiet, auf dem die Methode der theoretischen Physik erfolgreiche Anwendung erfuhr, bildet die thermodynamische Behandlung der chemischen Vorgänge. Auch hier geschah übrigens der erste erfolgreiche Schritt vor fast genau 40 Jahren: die betreffende Arbeit findet sich im zweiten Bande der "Berichte" unserer Gesellschaft. Besonders wichtig war der Nachweis, daß sich das Gesetz der chemischen Massenwirkung als ein strenges Postulat der Thermodynamik herausstellte.

Von weiteren Ergebnissen auf diesem Gebiete sei hervorgehoben, daß erst durch die Hilfe der Thermodynamik sich eine eingehende und vollständige Untersuchung heterogener Gleichgewichte, speziell auch für den Fall, daß Gemische mit beliebigen Konzentrationen (nicht nur verdünnte Lösungen) am Gleichgewicht teilnehmen, ermöglichte. Für spezielle Fälle der heterogenen Gleichgewichte ist die sogenannte "Phasenregel" von Nutzen, die allerdings im wesentlichen nur aussagt, daß bestimmten Verhältnissen der Temperatur, des Druckes und der Konzentrationen bestimmte (stabile) Gleichgewichte entsprechen; diese Regel bietet daher mehr ein gewisses Schema, als eine eigentliche Theorie, und es wurde dementsprechend von mehreren Seiten vor einer Überschätzung gewarnt. - Prinzipiell wichtig ferner ist die Feststellung, daß es zwei Arten von Stabilität chemischer Verbindungen gibt, eine scheinbare, dadurch bedingt, daß die Zerfallsgeschwindigkeit äußerst klein ist (Beispiele sind Stickoxyd, Wasserstoffsuperoxyd und die meisten organischen Verbindungen), und eine wahre, dadurch bedingt, daß das Gleichgewicht bei einer so gut wie quantitativen Bildung der betreffenden Substanz aus den Komponenten liegt.

Im engsten Zusammenhang mit der Thermochemie stehen die Elektrochemie und die Photochemie. Während das letztere Gebiet der theoretischen Behandlung bisher große Schwierigkeiten geboten hat, lieferte das Faradaysche Gesetz, welches Proportionalität zwischen chemischem Umsatz und hindurchgeschickter Elektrizitätsmenge statuiert und damit zugleich die für einen bestimmten Umsatz erforderliche elektrische Energie zu berechnen erlaubt, der Anwendung der Thermodynamik auf die Elektrochemie eine sichere Basis. Und indem man hiermit die speziellen Vorstellungen kombinierte, welche die Theorie des osmotischen Druckes und der elektrolytischen Dissoziation lieferte, ließ sich eine einfache Auffassung des elektrochemischen Prozesses entwickeln. Es hat sich dabei zugleich herausgestellt, daß zweifellos nicht nur bei den elektrochemischen, sondern auch bei vielen rein chemischen Prozessen die elektrischen Kräfte eine große Rolle spielen.

Damit sind wir denn zugleich auf das Problem der Natur der chemischen Kräfte gestoßen. Wenn diese Frage auch vielleicht nicht ganz die fundamentale Bedeutung besitzt, die man ihr häufig zugeschrieben hat, so müssen wir doch selbst in einer kurzen Übersicht zu ihr Stellung nehmen. Auch können wir uns da sehr kurz fassen, indem wir im wesentlichen einzugestehen haben; daß eine Antwort auf diese Frage auch in der Berichtszeit nicht gefunden wurde, welche wesentlich mehr besagte, als wir soeben sahen. Ziemlich sicher scheint, daß wir neben elektrischen, also polaren Kräften auch solche nicht polarer Natur, etwa nach Art der Newtonschen Gravitation, anzunehmen haben. Wenn Fluor und Kalium sich zum Salz vereinigen, so beruht die ungeheure Affinität dieser beiden Elemente zueinander jedenfalls zum Teil auf die Affinität des Fluors zur negativen, des Kaliums zur positiven Elektrizität; wenn wir aber zwei Stickstoffatome im Molekül des gewöhnlichen Stickstoffs zu einer vielleicht ebenso festen Verbindung vereinigt finden, so scheint hier die Wirkung polarer Kräfte bei der völligen Identität der beiden Stickstoffatome so gut wie ausgeschlossen. Der Umstand, daß wohl immer bei den chemischen Verbindungen der Elemente unter einander Kräfte polarer und nicht polarer Natur gleichzeitig wirken, dürfte in erster Linie Schuld daran sein, daß wir Natur und Gesetz der chemischen Kräfte noch nicht haben ergründen können, und daß die Forschung daher bisher über die Betrachtung der Energiebilanz nicht recht hinauskam.

Auf die Streitfrage, die wohl gelegentlich in der physikalischen Chemie aufgeworfen wurde, ob nämlich die Thermodynamik oder die Atomistik vorzuziehen sei, brauchen wir hier nicht einzugehen; diese Frage ist etwa ebenso bedeutsam, wie diejenige, ob Schiller oder Goethe größer gewesen sei, und ist auch in der analogen Weise zu beantworten, daß wir uns nämlich freuen sollen, zwei so mächtige, zur Zeit unentbehrliche Hilfsmittel des naturwissenschaftlichen Denkens zu besitzen. Wohl aber muß der Chronist die Tatsache registrieren, daß die meisten Erfolge der neueren Zeit auf dem Gebiete der physikalischen Chemie durch eine glückliche Kombination der thermodynamischen Methoden mit molekulartheoretischen Anschauungen gewonnen wurden, ähnlich wie ja auch die Schöpfer der modernen Wärmetheorie ihre beste Kraft zugleich an die Ausbildung der Atomistik und speziell der kinetischen Theorie gesetzt haben.

Die Thermodynamik entstand aus der Methodik der mathematischen Physik, die Atomistik hingegen verdankt ihre hohe Durchbildung vorwiegend der chemischen Forschung. Als ein weiterer Erfolg der letzteren müssen wir daher die Übertragung der Atomistik auf die Elektrizitätslehre ansehen, die sich neuerdings geradezu zu einer chemischen Theorie der Elektrizität auszubilden beginnt. Man hat nämlich sehr viele Gründe zu der Annahme, daß die beiden Elektrizitäten aus kleinsten, unter sich identischen Teilchen, den sogenannten Elektronen, bestehen; dementsprechend sind die freien Ionen als Verbindungen zwischen Elementen oder Radikalen und den Elektronen aufzufassen, für die das Gesetz der konstanten und multiplen Proportionen gilt, und die zugleich auch der Valenztheorie unterworfen sind. Wir müssen uns hier auf den kurzen Hinweis beschränken, daß durch diese wunderbare Weiterbildung der Atomistik zahlreiche physikalische und chemische Prozesse in ein ganz neues Licht gerückt wurden, und wollen nur noch am Schlusse dieses Referats kurz auf die radioaktive Strahlung eingehen, deren Wesen sich uns ebenfalls durch die erwähnte Elektronentheorie enthüllte.

Die Wirkungen dieser Strahlung werden nach der herrschenden Auffassung durch fortgeschleuderte freie oder an Materie gebundene Elektronen hervorgerufen und lassen sich am besten elektroskopisch nachweisen; diese Untersuchungen der jüngsten Zeit haben uns mit der neuen Welt der radioaktiven Substanzen bekannt gemacht, über deren chemischen Teil der folgende Hr. Redner berichten wird. An Empfindlichkeit ist diese Untersuchungsmethode häufig sogar der Spektralanalyse überlegen und als Beispiel möchte ich erwähnen, daß, wie ein jüngerer Forscher auf diesem Gebiete ausgerechnet hat, wenn wir ein mg Radium C an alle auf der Erde lebenden Menschen verteilen (etwa 2000 Millionen), dann jeder einzelne noch genug bekommen würde, um 5 Elektroskope zu entladen und somit (bei hinreichendem experimentellem Geschick) die wichtigsten Eigenschaften der radioaktiven Strahlung jenes Elements untersuchen zu können. Nur die große Empfindlichkeit dieses Reagens für radioaktive Substanz hat es ermöglicht, die Existenz einiger radioaktiver Elemente nachzuweisen, die sich sonst wegen der Geringfügigkeit ihrer Menge oder der Kürze ihrer Lebensdauer (im Sinne der Atomzerfallshypothese) unserer Kenntnis entzogen hätten.

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So leicht es häufig ist, Geschichte zu schreiben, so schwer fällt es immer, aus der Geschichte zu lernen. Wagen wir aber einen kleinen Versuch in dieser Richtung, so können wir vielleicht sagen, daß die Chemie bei der Fülle des noch zu bearbeitenden Materials auch in Zukunft vorwiegend auf die Darstellung neuer und auf die Untersuchung der Reaktionsfähigkeit schon bekannter Verbindungen angewiesen sein wird, daß aber in immer steigendem Maße die Methoden der experimentellen und theoretischen Physik zur Ergänzung der rein chemischen Forschung heranzuziehen sein werden.


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Revised 2003-08-24