Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, Halle, 1910, 4 Bände


III. Band, pp. 306 - 310

Das physikalisch-chemische Institut

[Von W. Nernst und J. Sand]

Das Physikalisch-chemische Institut hat sich aus dem II. Chemischen Laboratorium entwickelt, das in den Jahren 1881 und 1882 für Professor Rammelsberg errichtet wurde. Rammelsberg bezog dasselbe, das architektonisch den Nordostflügel des von Helmholtz geschaffenen neuen Physikalischen Instituts bildet, im Jahre 1883.

Dem Leiter des neuen Instituts, der hier seine bekannten mineralchemischen Untersuchungen fortsetzte, standen in den ersten Jahren als Assistenten und Dozenten die Herren Friedheim und Rosenheim zur Seite, die in Arbeiten über die kondensierten Säuren der Phosphorgruppe die neu aufblühende synthetisch-anorganische Richtung vertraten.

Im Oktober des Jahres 1891 ging die Leitung des II. Chemischen Instituts auf Prof. Landolt über, der die wissenschaftlichen Bestrebungen und Leistungen des Instituts in vielseitigste Bahnen lenkte. Gleichzeitig mit Landolt bezog Prof. Jahn als erster Assistent das Institut, um hier bald zum Abteilungsvorsteher und Extraordinarius vorzurücken. Nach baulichen Änderungen im Winter 1891/92 zeigte das Laboratorium eine stets wachsende Frequenz an Studierenden.

In Vorlesungen, Übungen und selbständigen wissenschaftlichen Untersuchungen wurden fast alle Gebiete der Chemie gepflegt. Der Institutsdirektor Prof. Landolt behandelte in den nun folgenden Jahren in seinen Sommervorlesungen anorganische Chemie, im Winterhalbjahr allgemeine und physikalische Chemie, die gerade in diesen Jahren sich in mächtiger Entwicklung regte und immer rascher zu einer selbständigen Disziplin neben reiner Physik und reiner Chemie erwuchs.

In Spezialvorlesungen unterrichtete Jahn über Elektrochemie, chemische Thermodynamik, Thermochemie und ausgewählte Kapitel der physikalischen Chemie; als Privatdozenten lasen im Institute die Herren Marckwald, H. Traube, Wohl, Rimbach, Posner, Hinrichsen und Roth über analytische Chemie, über die optischen Methoden der Chemie, über die Theorie der elektrolytischen Dissoziation u. a. Die vorbereitende experimentelle Tätigkeit der Studierenden erstreckte sich auf Practica in anorganischer und physikalischer Chemie.

Aus der großen Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen, die unter Landolt im II. Chemischen Institute entstanden, seien nur einige der wichtigsten Arbeiten herausgegriffen.

Aus dem Jahre 1893 stammen die gemeinschaftlichen Publikationen von Landolt und Jahn über die Molekularrefraktion organischer Verbindungen; es folgen weiterhin Veröffentlichungen von Schülern Landolts über das Drehvermögen optisch aktiver Verbindungen und über die elektromagnetische Rotation der Ebene des polarisierten Lichtes in Flüssigkeiten und Salzlösungen, organisch-synthetische Arbeiten speziell von Marckwald, die unter anderem wiederholt die Spaltung von Racematen und die Frage der asymmetrischen Synthese behandelten.

Im Jahre 1894 erfolgte die erste Publikation aus der Serie der bekannten Untersuchungen Landolts über die Gewichtsänderung chemisch sich umsetzender Körper, die erst im Laufe der letzten Jahre im Sinne der exakten experimentellen Bestätigung des Gesetzes von der Erhaltung der Masse ihren Abschluß fanden.

Jahn führte hier seine Arbeiten über die Thermodynamik der galvanischen Polarisation und über den Helmholtzeffekt reversibeler galvanischer Elemente aus, er untersuchte die Dissoziationsgleichgewichte in Lösungen der sogenannten starken Elektrolyte und die Änderung der Dissoziation schwacher Säuren mit wechselnder Temperatur im Zusammenhang mit ihrer Dissoziationswärme.

Im Jahre 1902 trat Marckwald mit seinen Arbeiten über die radioaktiven Elemente hervor, es folgten Untersuchungen über Radium und besonders über das kurzlebige Polonium.

Zu Ostern 1905 trat Landolt von der Leitung des Instituts zurück und als sein Nachfolger wurde Prof. Nernst, damals Direktor des Göttinger Physikalisch-chemischen Institutes, berufen.

Nachdem, wie oben dargelegt, bereits unter Landolt und Jahn die allgemeine und physikalische Chemie im II. Chemischen Institute eine besondere Pflege erfahren hatte, sollten nun unter der neuen Leitung die Hauptarbeitsziele des Instituts auch äußerlich zum Ausdrucke kommen: durch Ministerialerlaß vom 13. April 1905 erhielt das Laboratorium die neue Bezeichnung "Physikalisch-chemisches Institut".

Gleichzeitig erwies sich das Bedürfnis, die Arbeitsräume des Instituts zu vermehren, immer dringender; die beteiligten Staatsministerien des Unterrichtes, der Finanzen und der öffentlichen Arbeiten bewilligten denn auch bald Mittel, um das Institut durch einen Anbau zu erweitern.

Im Frühjahr 1907 wurde unter der Leitung des Baurates Bürde mit dem Neubau zweier Flügel begonnen, die sich vom Mutterbau aus südlich bis zur Nordmauer des pharmakologischen Institutes abzweigten. Durch die beiden zweistöckigen Anbauten wurde auch das im Parterre des Gebäudekomplexes eingerichtete Technologische Institut beträchtlich erweitert. Das Physikalisch-chemische Institut, das während der Bauzeit auch in seinen alten Teilen eine tiefgreifende Neugestaltung erfuhr, gewann in zwei Stockwerken fast eine Verdoppelung seines bisherigen Umfangs. Der Neubau wurde Oktober 1908 bezogen und am 9. Januar 1909 nach einer Besichtigung des ganzen Instituts durch eine zahlreiche Gesellschaft geladener Gäste feierlich eröffnet.

Leider hatte das Institut schon kurz nach dem Wechsel in der Leitung einen schweren Verlust zu beklagen:

Prof. Jahn, der langjährige Mitarbeiter Landolts verstarb plötzlich Anfang August 1906. An seiner Stelle wurde Prof. Bodenstein zum Abteilungsvorsteher des Instituts ernannt, der aber schon im Sommer 1908 als ordentlicher Professor an die Technische Hochschule Hannover berufen wurde, worauf Prof. Sand die Stelle übernahm.

Der Institutsdirektor behandelt, wie sein Vorgänger Landolt, in Hauptvorlesungen anorganische Chemie im Sommer, und physikalische Chemie im Winter; daneben in öffentlichen Vorlesungen die Thermodynamik chemischer Prozesse, die Theorie galvanischer Elemente und die Entwicklung der neueren Atomistik.

Außer den Abteilungsvorstehern Jahn, Bodenstein und Sand wirkten am Institut als Dozenten und teilweise auch als Assistenten die Herren Privatdozenten Prof. Marckwald, Prof. Meyerhofer, Prof. Roth, Prof. Löb, Byk, v. Wartenberg, Behn und Weigert, so daß den Studierenden stets eine vielseitige Auswahl von Spezialvorlesungen geboten werden konnte. Vorlesungen über theoretische und technische Elektrochemie, die Theorie der Gase; chemische Kinetik, chemische Optik, Chemie der hohen Temperaturen, dann über die Anwendung der physikalischen Chemie auf chemisch-technische Prozesse; Kollegia zur Einführung in die naturwissenschaftliche Mathematik, über analytische Chemie, Elektroanalyse, Stereochemie ergänzen die Hauptvorlesungen und erleichtern die selbständigen Arbeiten der Vorgeschrittenen.

Die wissenschaftlichen Arbeiten des Instituts behandelten in einer ihrer Hauptgruppen die Messung chemischer Gleichgewichte bei hohen Temperaturen. Die hierher gehörigen experimentellen Arbeiten über die Dissoziation von Wasserdampf und Kohlendioxyd (Nernst und v. Wartenberg), die Bildung und Zersetzung von Stickoxyd (Jellinek), Ammoniak (Jost), Phosgen (Bodenstein); die Messung von Dampfdichten bei den höchst erreichbaren Temperaturen (Nernst und v. Wartenberg); die exakte Ermittelung der Maximaldrucke bei Gasexplosionen (Pier), die Bestimmung von Dampfdruckkurven innerhalb weiter Temperaturgebiete standen vielfach im Zusammenhange mit theoretischen Arbeiten des Leiters über chemische Thermodynamik.

Eine zweite Gruppe von Abhandlungen betraf die Theorie der galvanischen Polarisation, die zu experimentell verifizierten Gesetzen über das Wesen der elektrischen Nervenreizung führten (Nernst, Eucken) und mehrere Arbeiten über die allgemeine Gestalt von Strom-Spannungskurven (Eucken), außerdem kamen Untersuchungen über die Kinetik von Gasreaktionen an passenden Katalysatoren (Bodenstein), photochemische, elektrochemische und organisch-chemische Arbeiten zur Veröffentlichung. Schließlich setzte Prof. Marckwald im Verein mit seinen Schülern die oben erwähnten Arbeiten erfolgreich fort.

Das Budget des Instituts basiert auf einem jährlichen Ordinarium von 15286 Mk.; ferner erhielt das Institut einmalige Zuschüsse zur Beschaffung kostspieliger Apparaturen, 1905 einen solchen von 10000 Mk., 1906 einen Zuschuß von 6000 Mk. Außerdem konnte bei der feierlichen Eröffnung des Instituts im Januar 1909 der Direktor die Mitteilung machen, daß dem Institute von privater Seite ein Kapital von 25000 Mk. zur Verfügung gestellt sei, welches der Errichtung und Dotierung einer thermodynamischen Abteilung gewidmet werden soll. Auch übermittelte Frau Geheimrat Jahn eine namhafte Summe für Fortführung der Untersuchungen ihres verstorbenen Gatten.

Dem Direktor des Instituts stehen für Unterricht und Verwaltung ein Abteilungsvorsteher und drei Assistenten zur Seite. Außerdem sind ein Mechaniker und zwei Diener etatsmäßig angestellt.

Die Studierenden des Instituts werden zum Teil schon von dem ersten Studiensemester an in der chemischen Abteilung des Instituts ausgebildet, zum Teil treten sie in späteren Semestern aus chemischen und physikalischen Unterrichtsanstalten über, um nach einem einleitenden physikalisch-chemischen Praktikum Doktorarbeiten oder selbständige Untersuchungen auszuführen.

Die Zahl der im Institute arbeitenden Herren beträgt gegenwärtig pro Semester etwa 45, zu ihrer Aufnahme stehen in zwei Stockwerken 18 größere und kleinere Räume zur Verfügung, die mit Gas- und Wasserleitungen und mit elektrischen Anschlüssen für Gleichstrom mit der Spannung 10, 110, und 220 Volt und für Wechselstrom ausgestattet sind. Außerdem besitzt das Institut zwei große Säle für Unterrichtspraktikum und Vorlesung, Bibliothek, geräumige Sammlungszimmer, zwei Werkstätten und weitere Hülfsräume im Souterrain des Gebäudes.

Als das Hauptziel des Unterrichts wird angestrebt, die Studierenden zur selbständigen Durchführung physikalisch-chemischer Untersuchungen nach den ihnen erteilten Anleitungen und Richtpunkten anzuregen. Es wird daher im Institut an dem Brauche festgehalten, die persönliche Verantwortlichkeit der Studierenden für ihre Arbeiten auch in der Autorenbezeichnung der Publikationen zum Ausdrucke zu bringen.

Die Studierenden nehmen meist auch an den Versammlungen der deutschen chemischen und physikalischen Gesellschaft, zuweilen auch als Vortragende, teil und finden sich monatlich zweimal in einem physikalisch-chemischen Colloquium zusammen, das, von dem Direktor des Instituts geleitet, auch von zahlreichen Gästen aus anderen naturwissenschaftlichen Instituten Berlins besucht wird.

Nernst. Sand.


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Revised 2007-03-15