Gerhard Harig (editor). Von Adam Ries bis Max Planck. 25 große deutsche Mathematiker und Naturwissenschaftler. VEB Verlag Enzyklopädie, Leipzig, 1961. 2. Aufl., 1962. pp. 118 - 122
Gerhard Harig (editor). Deutsche Forscher aus sechs Jahrhunderten. Lebensbilder von Ärzten, Naturwissenschaftlern und Technikern. VEB Bibliographisches Institut, Leipzig, 1965. pp. 373 - 377
Von Werner Haberditzl
Die Aufstellung des sogenannten Nernstschen Wärmesatzes oder auch des Dritten Hauptsatzes der Wärmelehre war die Krönung des Lebenswerkes eines Naturwissenschaftlers, der zu den ganz großen gehört, die für immer im Ehrenbuch der Wissenschaft verzeichnet bleiben. Unter den bedeutenden Naturwissenschaftlern, die in der Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Beginn der unseligen Naziära in Berlin lebten und forschten, war Nernst sicher eine der originellsten Persönlichkeiten. Einstein sagte von ihm, daß er niemals jemanden getroffen hätte, der Nernst auch nur in einem Punkte ähnlich gewesen wäre.
Nernst wurde am 25. Juni 1864 im damaligen Westpreußen als Sohn eines Landrichters geboren. Schon früh entwickelte sich seine Neigung zur Naturwissenschaft. Seine wissenschaftliche Ausbildung vollzog sich in Zürich, Berlin, Graz und Würzburg. Seine Lehrer waren u. a. die Physiker von Ettingshausen in Graz und Friedrich Kohlrausch in Würzburg, wo Nernst 1887 promovierte.
In Würzburg lernte er Svante Arrhenius kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Arrhenius gehörte zu den Begründern eines damals erst in Ansätzen existierenden Zweiges der Wissenschaft: der physikalischen Chemie. Angeregt durch Arrhenius und später als Assistent von Ostwald in Leipzig hat sich der junge Nernst zuerst vor allem der Elektrochemie zugewandt. Er beschäftigte sich mit dem Zusammenhang zwischen der elektromotorischen Kraft eines galvanischen Elementes und der Konzentration der in dem Element enthaltenen elektrolytischen Lösung. Dabei gelang ihm bereits ein ganz großer Wurf. Er konnte durch die heute als Nernstsche Gleichung in allen Lehrbüchern zu findende Gesetzmäßigkeit eines der wichtigsten Bindeglieder zwischen Elektrochemie und Thermodynamik auffinden. Seine Gedanken, die in der Habilitationsschrift "Die elektrochemische Wirksamkeit der Ionen" niedergelegt wurden, fanden schnell begeisterte Zustimmung bei den meisten Fachkollegen und verhalfen ihm schon in jungen Jahren zur Berühmtheit. So wurde er 1891 als Ordinarius für physikalische Chemie nach Göttingen berufen.
Hier begann Nernst sich mit thermodynamischen Untersuchungen zu beschäftigen. Arbeiten über die elektrolytische Leitung fester Körper bei sehr hohen Temperaturen führten zur Entdeckung eines Glühkörpers, der im wesentlichen aus Zirkonoxyd bestand und von der AEG als Nernst-Stift herausgebracht wurde. Er erlangte eine große, aber sehr kurz währende Berühmtheit, denn durch die Entwicklung der Kohle- und Metallfadenlampen geriet der Nernst-Stift bald in Vergessenheit.
Als 1904 Landolt, der Direktor des II. Chemischen Institutes der Berliner Universität, emeritiert wurde, wurde Nernst nach Berlin berufen und auf seinen Wunsch das II. Chemische Institut in Physikalisch-Chemisches Institut umbenannt. Damit begann die eigentliche Geschichte dieses in der Bunsenstraße direkt an der Spree gelegenen Institutes, das auch heute noch existiert. Eine ganze Generation von hervorragenden Physikochemikern ging in der Bunsenstraße durch Nernsts Schule: Eucken, Bodenstein, von Wartenberg, Eggert, Noddack, Jost, Bonhoeffer, Günther und Franz Simon, der 1933 von den Faschisten aus Deutschland vertrieben wurde.
1906 veröffentlichte Nernst in Berlin seinen bedeutendsten Beitrag für die Wissenschaft, der ihm 1920 den Nobelpreis einbrachte: den Dritten Hauptsatz der Wärmelehre. Vor Aufstellung dieses Satzes konnte der große Fortschritt der Wärmelehre, den die Arbeiten von Helmholtz, Gibbs, Berthelot und vielen anderen ermöglicht hatten, für die chemische Praxis deshalb nicht recht fruchtbar werden, weil es nicht möglich war, mit Hilfe von Reaktionswärmen chemische Gleichgewichtskonstanten zu bestimmen. Dies war aber das große Ziel der chemischen Thermodynamik, mit dessen Erreichen die Chemie, insbesondere die technische Chemie, zur rechnenden Wissenschaft wurde und nicht mehr auf reine Empirie angewiesen war. Nernst löste das Problem auf Grund einer ganz einfachen Annahme. Er postulierte, daß mit Annäherung an den absoluten Nullpunkt die Reaktionswärme einer chemischen Reaktion gleich der Änderung der sogenannten Freien Energie wird und sich beide Größen mit der Temperatur nicht mehr ändern. Mit dieser Annahme war es tatsächlich möglich, die Gleichgewichtskonstanten der Freien Energie aus Reaktionswärmen, also aus experimentell zugänglichen Größen zu berechnen. In den folgenden Jahren konnte das Nernstsche Postulat durch zahlreiche Messungen der spezifischen Wärmen bei tiefen Temperaturen, die vor allem Nernst selbst durchführte, glänzend bestätigt und von seiten der theoretischen Physik her, insbesondere durch Max Planck, weiter ausgebaut werden. Es zeigte sich, daß der Nernstsche Wärmesatz auch als Prinzip von der Unerreichbarkeit des absoluten Nullpunktes formuliert werden kann.
Damit wurde durch Walther Nernst nicht nur die theoretische Thermodynamik auf eine neue Stufe gehoben, sondern auch die chemische Industrie in die Lage versetzt, die ökonomische Realisierung ihrer Reaktionen vorher eingehend berechnen zu können. Dieser Teil des Nernstschen Lebenswerkes hat also die menschliche Produktion in entscheidender Weise beeinflußt.
Wenn wir heute nach den Gründen fragen, die einen so umfassenden Beitrag für die Wissenschaft durch die Arbeitskraft eines Mannes ermöglichten, so ist an erster Stelle die geniale Verbindung von Theorie und Praxis in der Nernstschen Arbeitsweise zu nennen. Nernst war nicht nur ein ausgezeichneter Experimentator, der viele Apparate selbst konstruierte und baute (Kalorimeter, Mikrowaage), und ein guter Theoretiker, sondern vor allen Dingen ein Wissenschaftler, der engsten Kontakt mit der Praxis der Industrie suchte und in jedem technischen Problem sofort den theoretischen Aspekt sah.
Aus diesem Grunde faßte Nernst 1922 wohl auch den folgenschweren Entschluß, das Amt des Direktors des Physikalisch-Chemischen Institutes mit dem des Präsidenten der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt zu vertauschen. Er wollte große Pläne und Reformen der Organisation der Wissenschaft durchführen, die aber in der Inflationszeit scheitern mußten. So kehrte er 1924 an die Universität - als Direktor des Physikalischen Institutes - zurück. In der Zeit des aufkommenden Faschismus, dem Nernst innerlich ablehnend gegenüberstand, hat er keine bedeutenden Leistungen mehr vollbringen können. Er zog sich 1933 auf sein Gut in der Lausitz zurück und starb am 18. November 1941.
Die Erinnerung an Nernst ist heute nicht nur in Berlin, sondern überall, wo seine zahlreichen Schüler arbeiten, noch sehr lebendig. Seine originelle und gänzlich unkonventionelle Persönlichkeit, die durch eine Mischung von Temperament, Präzision, mitunter heftiger Parteilichkeit, aber auch großer Liebenswürdigkeit geprägt war, behalten alle, die ihn kannten, in dankbarer Erinnerung. Zahlreiche Anekdoten, die über ihn erzählt werden, beziehen sich meistens auf die große Leidenschaft, mit der Nernst sich besonders aparten und seinerzeit noch sehr ausgefallenen Erfindungen zuwandte. Nernst war einer der ersten deutschen Automobilisten, der mit wahrer Besessenheit dem Motorsport anhing. Jahrelang hat er sich aber auch mit der Konstruktion eines elektrischen Klaviers, dem Neo-Bechstein-Flügel, beschäftigt. Er bezeichnete diese seine Liebhabereien als "Physique amusante". Dabei darf aber nicht vergessen werden, daß er in einer recht wenig "amüsanten" Zeit gelebt hat. Die furchtbare Gefahr einer Auslieferung der Wissenschaft an Militarismus und Faschismus hat Nernst bis 1918 nicht gesehen. Aber der mörderische Krieg, in dem er für den deutschen Generalstab chemische Arbeiten durchführte, raubte ihm beide Söhne. Er erlebte die infamen Angriffe gegen Albert Einstein, seinen großen Kollegen, dessen Berufung nach Berlin er mit durchgesetzt hatte. Es sollte nie vergessen werden, daß auch Nernsts Name unter jener Erklärung stand, die sich scharf gegen die gehässige Diffamierung Einsteins wandte und 1920 der Presse übergeben wurde.
In seinen Veröffentlichungen finden sich auch viele sehr treffende Bemerkungen über naturwissenschaftlich-philosophische Probleme, die von einer durchaus materialistischen Grundeinstellung zeugen. So wandte er sich vor allem gegen die reaktionären Spekulationen über den sogenannten "Wärmetod" der Welt.
Das Erbe Walther Nernsts hilft uns heute in Hunderten von Hochschul- und Industrielaboratorien, aber auch in den großen Werken der chemischen Industrie bei der Verwirklichung unseres Chemie-Programms, das ohne Nernsts Lebenswerk undenkbar wäre.
Revised 2004-09-20