Die Umschau. Illustrierte Wochenschrift über die Fortschritte in Wissenschaft und Technik. 35. Jahrg. 1931. Heft 42. Pp. 840 - 843


Das Radio-Klavier von Bechstein-Siemens-Nernst

Klangfarben auf Bestellung

Von Fritz Wilh. Winckel

Der Wohlklang und der Reiz eines Musikinstrumentes liegt in der Klangfarbe, die gekennzeichnet ist durch eine Anzahl von harmonischen Oberschwingungen, die ein bestimmtes Intensitätsverhältnis zum Grundton haben. Der Vorgang jeglicher Klangbildung läßt sich allgemein in zwei Stadien unterteilen: die Erzeugung eines Grundtones, der reich mit Obertönen gesättigt ist, und darauf die Abstrahlung dieses Gemisches durch einen Resonanzboden oder Hohlraum, welche Gebilde die Eigenschaft haben, durch Resonanz bestimmte Obertöne vor den übrigen zu verstärken und damit eine charakteristische Klangfarbe zu erzeugen. Diese Erkenntnisse gehen schon auf Helmholtz zurück, aber die Physik war bisher nicht imstande, etwa die Klangfarbe eines Klaviers auf anderem Weg als eben durch ein Klavier hervorzubringen. Erst die Ergebnisse der neuesten Zeit haben auf Grund von elektrischen Klanganalysen wenigstens einen Einblick in die Klangstruktur des Klaviers gebracht. Der Resonanzboden eines Flügels, die Seele des Instrumentes, ist ein äußerst diffiziles Gebilde aus besonders behandelten Brettern der Bukowinafichte und ist seiner Bauweise nach auf die alten Erfahrungen und die geheimnisvolle Kunst des Klavierbauers gegründet, ohne einer theoretischen Berechnung zugänglich sein.

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Fig. 1. Das Radio-Klavier von Bechstein-Siemens-Nernst
Foto Akademia, Berlin

Das Problem der elektrischen Musik besteht nun darin, die Klangbildung ganz oder teilweise elektrisch durchzuführen, indem man den obertonreichen Grundton mechanisch wie bisher oder elektrisch durch Schwingungen in Elektronenröhren (Vgl. "Umschau" 1931, H. 1.) erzeugt und dann bestimmte Obertöne durch elektrische Resonanzkreise hervorhebt und mit dem Grundton zusammen in einem Lautsprecher abstrahlt. Durch die Mannigfaltigkeit an Radioschaltungen ist es möglich, eine unübersehbare Anzahl von Klangfarben und damit vollkommen neuartige Klangeffekte zu schaffen. - Indessen hat man sich beim Klavier die Aufgabe gestellt, die typische Klangfarbe dieses Instrumentes elektrisch nachzuahmen und darüber hinaus sie zu verbessern; denn darin besteht erst der technische und zugleich der kulturelle Fortschritt. Schon Oskar Vierling im Heinrich-Hertz-Institut hat vor drei Jahren die Idee geäußert, den Klavierton von den Saiten durch Mikrophone abzunehmen, zu verstärken und im Lautsprecher hörbar zu machen; ferner hat der Physiker Frankó in Ungarn darauf hingewiesen. Im Hamburger Rundfunk hat man vor Jahresfrist den Versuch gemacht, die Schwingungen der Klaviersaiten in elektrischen Tonabnehmern aufzunehmen und die so erhaltenen Wechselströme direkt auf den Sender zu geben. Aber damit ist die Aufgabe erst halb gelöst, denn es fehlt die Resonanzaussiebung der Obertöne. Erst Geheimrat Nernst ist es mit seinem Mitarbeiter Hans Driescher gelungen, ein Instrument zu schaffen, das in jeder Beziehung die physikalischen Grundsätze der Schwingungstheorie berücksichtigt.

Die Versuche wurden mit großen Mitteln und den reichen Erfahrungen der Firma Bechstein aufgezogen, die die Anschlagmechanik neu gestaltete, und der Firma Siemens, die für eine vollkommene elektrische Durchbildung vom Mikrophon bis zum Lautsprecher Sorge trug. Unter der Patenschaft solch bewährter Kräfte ist das Instrument durchgearbeitet und erprobt worden.

Schema der Tastenübertragung

Fig. 2. Schema der Tastenübertragung beim Radio-Klavier

Für den Bau des Flügels war der Grundgedanke maßgebend, daß die Saiten nur ganz leicht angeschlagen und deren Schwingungen nachher um so mehr verstärkt werden. In der Schwingungslehre gilt nämlich der Satz, daß die Schwingungen um so reiner werden, je geringer die Ausschläge sind. Mittels der Elektronenröhren ist es möglich, die durch das Mikrophon elektrisch umgewandelten Schwingungsamplituden genau proportional zu vergrößern. Von diesen Grundsätzen macht man auch bei der elektrischen Schallplattenaufnahme bzw. Wiedergabe Gebrauch. Von solchen Gesichtspunkten ausgehend, werden dünnere Saiten als beim gewöhnlichen Klavier gewählt und die Saiten so verkürzt wie bei einem Stutzflügel, so daß ein billiger Eisenrahmen zur Bespannung genügt. Der Anschlag ist durch die "Mikrohämmerchen" verfeinert worden, die auf einem elastischen Lederbändchen auf dem Haupthammer sitzen. Bei Anschlag einer Taste springt der große Hammer gegen eine Anschlagleiste, worauf der kleine Hammer elastisch gegen die Stahlsaite schlägt. Damit ist das Klopfgeräusch beim Anschlag des alten Klaviers vermieden.

Die so erzeugten Schwingungen der metallischen Saiten werden von elektrischen Tonabnehmern aufgenommen, es findet also eine unmittelbare Umwandlung von mechanischen in elektrische Schwingungen statt. Daher besitzt das Mikrophon keine Membran; die Saitenschwingungen induzieren direkt in dem Magnetsystem des Telephons einen Wechselstrom, der erst nach der Verstärkung im Lautsprecher in hörbare Töne umgewandelt wird. Der Flügel an sich ist bei abgeschaltetem Lautsprecher stumm, da der Resonanzboden fehlt. Da es schwer fällt, für alle 87 Saiten ein Mikrophon anzubringen, ist die Anordnung, wie Fig. 1 zeigt, so getroffen, daß je fünf Saiten unter einem Magnetsystem zusammenlaufen. Der erzeugte Wechselstrom durchläuft nun ein System von Kondensatoren und Siebketten. Je nach der Einstellung können bestimmte Obertöne hervorgehoben und damit die Klangfarbe beliebig bestimmt werden; oder, wie Nernst sagt, können Klangfarben auf "Bestellung" geliefert werden. Für ein musikalisch vollkommenes Instrument wurde eine Norm geschaffen, wonach die Mittellage unverändert wie beim Flügel wiedergegeben wird, während die hohen, bisher so spitzen Töne jetzt glockenähnlich klingen und im Baß der Grundton, der gewöhnlich bei den tiefsten Tönen schwächer als die Obertöne ausstrahlt, hervorgehoben wird.

Nach einer solchen Vorbereitung gelangt der Wechselstrom über einen Dreiröhrenverstärker zu einem Lautsprecher, wo er abgestrahlt wird. Die Lautstärke läßt sich je nach den Räumlichkeiten beliebig ändern; man kann mit voller Leistung wie auf einem Konzertflügel spielen oder sogar leiser als bei einem Stutzflügel. Diese Annehmlichkeit wird von den Mitbewohnern beim Ueben des Spielers besonders begrüßt werden. Durch Einschaltung des linken Pedals erreicht man die Wirkung eines Harmoniums. Die Ausklingzeit des Tones ist nämlich gegenüber dem normalen Flügel um das Fünffache verlängert, da die dämpfende Wirkung des Resonanzbodens nicht mehr vorhanden ist. Andererseits kann man durch einen Hebelzug neben der Tastatur die mechanische Filzdämpfung anlegen, wodurch das Klavier zum Spinett wird. -

Ein besonderer musikalischer Effekt, den schon vor 100 Jahren Chladni anzuwenden versuchte, ist das gleichmäßige Anschwellen des Tones, das durch ein allmähliches Treten des linken Pedals erreicht wird. Es gehört demnach außer dem Fingerspitzengefühl auch ein Fußspitzengefühl zum Spielen des neuen Klaviers.

Da nun schon einmal ein Radioverstärker in den Flügel eingebaut ist, so bereitet es keine großen Kosten, daran auch noch einen Rundfunkempfänger und ein Schallplattengerät anzuschließen. Dadurch ergeben sich ganz neue Anwendungsmöglichkeiten: man kann z. B. einen Sologesang auf der Schallplatte spielen und am Flügel begleiten oder umgekehrt zu einem Klavierkonzert die Orchesterbegleitung von der Schallplatte beziehen. Durch die eingangs geschilderten mechanischen Vereinfachungen stellt sich das gesamte Instrument billiger als der kleinste Stutzflügel.

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Fig. 3. Max Nahrath am Bechstein-Siemens-Nernst-Flügel
Foto Akademia, Berlin

Der Laie ist leicht geneigt, elektrische Musik als mechanisiert und seelenlos in jedem Fall abzulehnen; dazu ist folgendes zu sagen: Die Anschlagstechnik ist im Prinzip unverändert geblieben, die Ausbildung des Mikrohammers ist eine Verbesserung, die auch für normale Flügel von Vorteil wäre. Die Eigenart des künstlerischen Anschlags bleibt daher gewahrt. Ferner ist der typische Klavierton erhalten. Die Qualität der Wiedergabe ist wesentlich vom Lautsprecher abhängig; erst seine heutige Vollkommenheit hat die elektrische Musik möglich gemacht. Er besitzt einen Frequenzbereich bis 10000 Schwingungen pro Sek.; eine weitere Verbesserung wird also dem Radioflügel sehr zustatten kommen. Ferner sind die dynamischen Unterschiede von laut bis leise beschränkt, da sonst der Verstärker verzerrt wird. Aber vielleicht ist das künstlerisch ein Vorteil, da man von den dynamischen Effekten auf eine musikalische Vertiefung zurückgeführt wird. Der wesentlichste Fortschritt des Flügels besteht jedoch darin, daß der Künstler durch die neuen Möglichkeiten das Instrument in hohem Grade seinen individuellen Bedürfnissen anpassen kann und dadurch sein schöpferisches Gestalten mehr zur Geltung zu bringen vermag. Die elektrische Musik, die an so vielen Stellen zugleich entstanden ist, entspringt dem Bedürfnis unserer Zeit und ist dazu berufen, einen Ausgleich gegen das passive Musikhören im Rundfunk zu schaffen.


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Revised 2005-08-01